Verglichen mit Berlin, Hamburg oder Köln war das Ruhrgebiet immer musikalische Provinz. Die wichtigen Netzwerke zur Musikindustrie und zu Musiker*innen musste man von dort aus immer in der Ferne knüpfen. Das ist heute überwiegend immer noch so, aber es gibt Inseln. Dazu zählt das Label Mightkillya aus Hattingen, das neben der mittlerweile deutschlandweit berühmten Amilli jetzt mit Philine Sonny ein weiteres, starkes Aushängeschild hat.
Als im Sommer 2022 nach der Corona-Zwangspause endlich wieder Bochum Total, eins der größten Umsonst-und-Draußen-Festivals Europas stattfinden konnte, da überraschte sie als Newcomerin mit einem beeindruckenden, gut besuchten und umjubelten Auftritt. Philine Sonny (eigentlich Philine Bernsdorf) stammt aus Unna am Rand des Ruhrgebiets und spielt sehr eingängigen, schwelgerischen, erhebenden Indie-Pop. Ihre ausgefeilten Arrangements klingen, als hätte sie seit Jahren daran gefeilt, dabei ist sie gerade mal 20 Jahre alt – und schon eines der Aushängeschilder des Ruhrgebiets-Labels Mightkillya. Sie hat sich bewusst für das Label entschieden, obwohl sie ihre Fühler bereits nach Hamburg ausstreckt, wohl auch andere Angebote hatte.
Trotz ihrer jungen Jahre hatte Philine Sonny schon viel Zeit, sich zu entfalten, denn ihre Liebe für Musik entdeckte sie früh. Mit zehn Jahren saß sie zum ersten Mal am Schlagzeug, fing an, Unterricht zu nehmen. Sie spielte dann in Schulbands und im Schulchor. Doch damit nicht genug: Noch während der Schulzeit brachte sie sich selbst Bass, Gitarre und Klavier bei, nahm Gesangsunterricht und begann, eigene Songs zu schreiben.
Reifer Klang
Dazu kam das Interesse, die Musik nicht nur zu schreiben und zu spielen, sondern auch gut aufzunehmen. So wurde Philine Sonny nach dem Abitur auch zu einer guten Produzentin. Deshalb ist es also kein Wunder, dass die Stücke, die man auf ihrer aktuellen EP »Lose Yourself« (unter anderem bei allen Streaming-Diensten) hören kann, so reif und gut durchdacht, man könnte sagen: gut abgehangen, klingen. Das Titelstück »Lose Yourself«, bei dem sie das komplexe Thema Depressionen verarbeitet, wirkt anfangs wie eine neue Single der amerikanischen Band The War On Drugs, deren Soundästhetik sich durch Zitate der großen Stadionrock-Acts der 1980er Jahre auszeichnet. Da schwirren Keyboards und Gitarren durch die Soundlandschaften, die an Bruce Springsteen oder die Dire Straits erinnern.
Philine Sonnys Stücke verorten sich nach solchen Intros dann aber doch schnell mehr im von Gitarreneffekten getriebenen Indiepop wie er aktuell von Musikerinnen wie Phoebe Bridgers oder Lucy Dacus gespielt wird. Und zumindest im Video zu »Lose Yourself« bezieht sie sich auch klar aufs Ruhrgebiet: Im Hintergrund der schwarz-weißen Bilder, die auch schon Jahrzehnte alt sein könnten, ist immer wieder die Ruhr-Universität Bochum zu sehen.
Hinter dem Label Mightkilly, das seinen Sitz in einem Gewerbegebiet in Hattingen hat, steckt ein Produzententeam um Fabian Süggeler. Er ist der Bruder von Alina Süggeler, die als Frontfrau der im gesamten deutschsprachigen Raum erfolgreichen Band Frida Gold bekannt wurde. Auch Fabian Süggeler startete als Musiker, versuchte 2012 als Gitarrist und Sänger der Band Fynn durchzustarten. Jetzt ist ihm sein ganz großer Erfolg hinter den Kulissen gelungen, denn Philine Sonny ist nicht der erste Act des Labels, der ein großes Publikum findet. Ganz plötzlich auf der Landkarte des deutschen Musikbetriebs erschien es, als 2018 die Bochumer Sängerin Amili den Förderpreis bei der renommierten 1LIVE Krone erhielt. Heute sind seine Macher offenbar so beschäftigt, dass sie per Mail oder Telefon kaum zu erreichen sind, abgemachte Termine plötzlich doch nicht stattfinden können.
Leichte Melancholie und mitreißende Ohrwürmer
Aber sie haben eben alle Hände voll zu tun: Neben dem entspannten Soul von Amili produzieren Mightkillya unter anderem das Geschwister-Trio Fine (ausgesprochen wie das englische Wort, also »fein«) oder Byelian, der schon als der neue »Bon Iver« gefeiert wurde. Eine gewisse Ähnlichkeit zur frühen Soundästhetik der US-amerikanischen Indie-Folker von Bon Iver kann man allerdings allen Künstler*innen des Labels nachsagen. Vielleicht ist das eine Art Signatur-Sound von Mightkillya: Die leichte Melancholie, das Schwelgen und Schweben in geschichteten Landschaften aus Gitarren, Keyboards und Hall.
Philine Sonny sagt von sich selbst, dass sie ein sensibler Mensch ist. Sie ist Scheidungskind, kennt Selbstkritik, Zweifel und Ängste und thematisiert sie in ihren Songs. Sie erzählt vom Sich-Verlieren und sich wieder finden. Andere Texte schöpft sie aus Alltagssituationen oder Erlebnissen mit Menschen aus dem direkten Umfeld. Ein Song heißt zum Beispiel »Oh Brother«. Ein unbedingter Anspieltipp, der das volle Potential ihrer Kunst entfaltet, ist »People«, ein mitreißender Ohrwurm, so atmosphärisch wie treibend. Und er macht das feine Sensorium deutlich, mit dem sich die Musikerin durch diese Welt bewegt: »There are people living in the streets tonight«, singt sie. »Tell me, how are you tonight? Are you holding on?« Sowohl von ihr als auch ihrem Label wird man sicher noch viel hören.