Lack ist ein ganz besonderer Saft. Die Sammelbezeichnung steht für Beschichtungsstoffe auf der Grundlage organischer Bindemittel. So naturwissenschaftlich trocken könnte man beginnen, um über das einzigartige Museum für Lackkunst und seinen weltweit umfangreichsten und in seinen Beständen geschlossensten Besitz von mehr als tausend Stücken zu berichten. Oder auch so: Mit dem Lack ist es folgendermaßen bestellt: Er wird entweder als Schelllack aus dem Stoffwechselprodukt der Schildläuse gewonnen – das dem Sanskrit entliehene »laksha« stiftete den Namen. In seiner ostasiatischen Reinnatur stammt das Produkt indes aus einem ganz bestimmten Baumharz. Durch Schnitte in die Rinde des Rhus verniciflua tritt ein milchig-weißes Sekret (urushi) aus. Unversetzt – nur filtriert und erhitzt, um ihm das Wasser zu entziehen – verwandelt es sich in den honigfarbenen, in Qualität und Haltbarkeit unübertroffenen Extrakt, der gar nicht zu vergleichen ist mit dem ordinären Schelllack.
Damit wäre die Basis für die glänzende Kunstfertigkeit gelegt, wie sie sich in Münster besichtigen lässt.
In einer eleganten Stadtvilla von 1911 – nahe dem Hauptbahnhof, umschwirrt von reichlich Fahrradverkehr – hat seit zwölf Jahren das privat finanzierte Museum seinen Sitz, das sich neben der Präsentation seiner Sammlung auch der Forschung widmet und eine Bibliothek unterhält. Seit jüngstem wird es noch von einem Freundeskreis unterstützt.
Die von den Industriellen Erich Zschocke in Köln und Kurt Herberts aus Wuppertal ur sprünglich jeweils zusammengetragenen, sich ideal ergänzenden Kollektionen an Lackkunst wurden im Zuge der Firmenübernahme 1968 bzw. 1982 von der BASF Coatings AG (Automobil- und Industrielacke) erworben und bekamen – nach einer Phase der Ausstellungs- Wanderschaft – ihr repräsentatives westfälisches Heim.
Ostasien als der Ursprungsregion der Lackkunst widmet sich das Erdgeschoss des Museums mit seinen dezent lichtgeschützten Räumen. China und – via Korea – Japan brachten die ersten Lackmeister hervor. Anfänge verdunkeln sich in vorchristlicher Zeit.
Älteste Trouvaillen in Münster sind ein noch sehr schlichter Becher und eine ebensolche Ohren-Trinkschale, datiert auf das 3. bis 4. Jahrhundert vor Christus.
Die hochwertigen, teils Jahre der Fertigung beanspruchenden Objekte mit ihrer exquisiten, etwa durch Nullkommanull-Millimeter- Schichtungen erworbene Patina hatten entweder rituelle Funktion (Altarschreine, Götterstatuen) oder dienten dem Alltagsgebrauch: Schalen und Schüsseln, Siegel- und Medizinbehälter, Truhen und Vasen, Sättel oder bevorzugt Schreibgerät, Schreibkästen, Pulte, Etuis etc.
Die Lackkunst hat ihr Spezialvokabular, man unterscheidet Ziertechniken und Stilarten, darunter den Schnitzlack, den bemalten, eingelegten, gefüllten und gravierten Lack; gearbeitet wird mit zart glimmenden Perlmutt- Flächen (gern aus Korea) oder in der delikaten Goldstreu-Methode, wie eine Vitrine sie in einem herrlichen Schreib-Set aus der Edo-Epoche um 1700 zeigt.
Die ornamentale Vielfalt und der dekorative Charakter genügten als ästhetische Qualität durchaus schon, aber die Gegenstände erlangen über ihre schlichte Schönheit hinaus eine Aura der Gefasstheit, Ruhe und Harmonie, die sie auch von ihrer profanen europäischen Nachkommenschaft unterscheidet.
In Europa kannte man den Lack bereits in römischer Zeit, wo das tierische Produkt als »gomma lacca« im Gebrauch war. Im Mittelalter jedoch vergaß man die Herstellung und vergewisserte sich erst wieder über den orientalischen Umweg und besonders dank des asiatischen Impulses dieses Kunsthandwerks im 16. Jahrhundert. Der Luxusartikel kam der Neigung des Rokoko zu preziosem Zierwerk nach, die parfümierte Chinamode tat das ihre. So umgaben sich das höfische und das wohlhabende bürgerliche Leben mit Tabatieren, Schatullen, Keramiken, Fächern und erlesenem Mobiliar. Die erste Etage des Museums ist Europa samt Russland – und in einem Kabinett dem islamischen Raum mit Persien, Kaschmir und Indien sowie Siam und Birma – vorbehalten. Eine hübsche Verbindung zwischen den Kulturen stiftet hier ein arabeskenhafter Einband zu der Cotta-Erstausgabe von Goethes »West-Östlichem Divan« von 1819.
Das Untergeschoss bleibt reserviert für Sonderschauen, aktuell wird die zunächst in Braunschweig gegründete, später nach Berlin umziehende Manufaktur Stobwasser vorgestellt.
Das Verfahren zur Gewinnung des Lacks war ein gut gehütetes Geheimnis, was auch heute noch wegen der nicht exakt zu bestimmenden Harz- und sonstigen Beimischungen Restaurierungen schwierig macht.
Der florierende Markt im 18. Jahrhundert schuf Konkurrenten und Nachahmer, etwa in England und Russland. Aber Stobwasser konnte sich behaupten, berühmt für seine kostbaren Schnupftabakdosen mit ihrer sehr feinen Miniaturen-Malerei, ob Genre, Porträt, Landschaft oder historische Szene, die die Petitessen schmücken. Johann Heinrich Stobwasser, Sohn des Firmengründers Sigismund (1686-1776), blickt uns auf einem von Friedrich Georg Weitsch gemalten Porträt wie ein Alchimist zwischen Lackflasche und Bernsteinkistchen an. Seine Miene scheint der Überzeugung Ausdruck zu verleihen, dass der edle Werkstoff mindestens ebenso ein Patentrezept verdient wie heutzutage der Süßstoff Coca Cola. Lack ist eben ein ganz besonderer Saft.
Sonderausstellung Stobwasser bis 15. Jan. 2006, Katalog 36 Euro.