TEXT: ANDREAS WILINK
Ein Jubiläum. Das Festival »Impulse« wird 25 Jahre alt. 1990 vom KULTURsekretariat Wuppertal gegründet, ist es immer noch in dessen Verantwortung. Man hat Produktionen der drei deutschsprachigen Länder im Blick. Igor Bauersima, Niklaus Helbling, René Pollesch, Nicolas Stemann, Sandra Strunz, Roger Vontobel, She She Pop und manche mehr wurden hier »gemacht«. Einige der Lieblings-Künstler wie andcompany&Co., Gintersdorfer/Klassen, Gob Squad sind bei den neun geladenen Produktionen 2015 mit dabei. Manchmal ist der Wille zum Politischen größer, als die Befähigung zur Durchführung. Manchmal das Detail erfasst, aber die Geste verrutscht. Doch muss der Betrachter der leichtfertigen Versuchung widerstehen, das kleine(re) Format zwischen Konstruktion, Dekonstruktion, Reflexion, Labor- und Kongress-Situation, zwischen Performance, Konzert, Diskurs-Forum und das scheinbar Heimelige (in dem immer das Unheimliche nistet) als Widerspruch zum großen Stoff zu sehen. Thomas Oberender, Intendant der Berliner Festspiele, hat in einer Positions-Bestimmung jüngst festgestellt: »Das Theater ist selber zum Autor geworden, es generiert selbst seine Stoffe, es ist ein Allesfresser geworden – nicht mehr ein Verdauungsapparat, sondern Erzeuger der eigenen Stoffe und Gegenstände.« Der theatrale Ernährungswissenschaftler Florian Malzacher gibt Auskunft über die »Gesellschaftsspiele« 2015.
K.WEST: Der neue Intendant der Münchner Kammerspiele, Matthias Lilienthal, Miterfinder der Berliner Volksbühne und ehemalige Chef am Berliner HAU, spricht mit Blick auf seine erste Saison an der Münchner Maximilianstraße und dem Mit- und Durcheinander des Stadttheater-Stils und anderer Formate von »Hybridisierung von Arbeitsweisen«.
MALZACHER: Freies Theater existiert doch nicht im Verhältnis zu den Stadttheatern, wie deren Intendanten gern behaupten. Es ist etwas Eigenes, das sich zwischen verschiedenen Kunstformen bewegt, also sich genauso gut in Verbindung mit einem Kunstverein, einer Band oder meinetwegen einem Physik-Institut ereignen kann – diese Freiheit, sich immer neu zu erfinden, unterscheidet es vom Repertoiretheater mit seinem begrenzten Auftrag. Feste Genre- und Institutions-Zuschreibung sind eine Erfindung des 18. Jahrhunderts – wie ja auch die Stadttheater.
K.WEST: Wir haben schon vor zwei Jahren gefragt, macht es noch Sinn, nach der Abgrenzung vom freien zum etablierten Theater zu fragen. Gob Squad und She She Pop gehen etwa an die Stadttheater und an die Oper.
MALZACHER: Wichtig ist doch, welche Zusammenarbeiten und welche Strukturen gut für die jeweilige Arbeit sind und für die künstlerische Entwicklung. Für René Pollesch war es der richtige Schritt ans Stadttheater zu gehen, weil er bestimmte Schauspieler wollte und brauchte. In vielen anderen Fällen geht die Liaison nicht so gut aus. Das freie Theater bietet mehr Zeit und Freiheit des Denkens, das Stadttheater ein Ensemble und festere Struktur.
Jedenfalls ist die immer noch verbreitete Meinung, das freie Theater sei ein Nachwuchsreservoir und wenn man erwachsen geworden ist, geht man ans Stadttheater, völliger Unsinn. In anderen Ländern mit anderen Traditionen, wie in Belgien, wäre eine solche Vorstellung absurd. Dazu kommt die starke Internationalisierung der Szene – viele zu »Impulse« eingeladene Künstler haben zwar ihren Lebensmittelpunkt im deutschsprachigen Raum aber keine deutschen Pässe.
Solche Produktionsweisen erzeugen sehr unterschiedliche Ansätze und Handschriften – und sind oft schwer vergleichbar. Deshalb haben wir auch das System der Prämierung abgeschafft. Jede Produktion hat ihre eigenen Bedingungen und Kriterien. Man muss auch Spaß haben, herauszufinden, welches die jeweiligen Spielregeln sind – und kann dann natürlich fragen, ob sie gut umgesetzt oder überhaupt sinnvoll sind.
K.WEST: Kann man sagen, die Ränder machen sich breit?
MALZACHER: Mich interessiert, was Theater ist. Egal, aus welcher Perspektive. Wenn man eine künstlerische Arbeit, bei der man vielleicht nicht beim ersten Blick drauf käme, als Theater definiert – was passiert dann damit und mit unserem Blick? Die Rahmung macht etwas aus. Dazu kommt, dass mehr und mehr Produktionen ortsspezifisch und nicht transportabel sind oder nur einmalig stattfinden können. Ein Beispiel dafür sind die mir wichtigen, aber eben von uns nicht zeigbaren »Moskauer Prozesse« von Milo Rau: Er hat in Russland drei bedeutende Gerichtsverfahren gegen die Kunst theatral wiederverhandeln lassen – mit tatsächlichen Protagonisten der verschiedenen Positionen, wie Katja Samuzewitsch von Pussy Riot. Eine Jury hatte dann zu entscheiden, ob die Kunst schuldig sei oder nicht. Das können wir nur als Filmdokumentation zeigen.
K.WEST: Ich gestehe zu, viele tolle Themen. Wie »Ibsen: Gespenster« von Markus&Markus, die mit Tristan, Werther, Hedda Gabler und Tosca eine Suizid-Revue literarisch und dokumentarisch inszenieren, in der der Sensenmann umgeht und Wirkungsweisen des tödlichen Gifts vorträgt und unsere Sterbekultur befragt wird. Aber Form und Formate fransen oft aus. Die Aufführungen wirken dann lazy und über-entspannt wie eine Club-Nacht.
MALZACHER: Aber das stimmt doch längst nicht mehr – das war vielleicht eine Phase in vielen Arbeiten, aber das hat sich sehr verändert. Die Hinwendung zu sich selbst, die Selbstbezüglichkeit und eigene Befindlichkeit war ja mal ein Auftrag – ein Impuls nicht zuletzt aus Gießen, nicht dauernd zu behaupten, man wäre befugt, über andere zu reden.
K.WEST: Sie sprechen vom Institut für Angewandte Theaterwissenschaft, der Fluch und Segen über unsere Theaterlandschaft gebracht hat …
MALZACHER: … und wo ich auch meinen Abschluss gemacht habe …
K.WEST: Dessen Methode der FAZ-Theaterkritiker Gerhard Stadelmaier mit der Formel erfasst, »was dem Regisseur durch die Birne rauscht« …
MALZACHER: Es war eine Gegenbewegung zu den großen, ehernen Weltdeutungs-Unternehmungen. Damals entstanden – um auf das Programm 2015 zu kommen – Gruppen wie Gob Squad mit ihren hippen, glitzernden, aber auch selbstbezogenen Arbeiten.
K.WEST: Und man findet sich immer wieder im heimischen Wohnzimmer – ein bevorzugter Spielort der diesjährigen »Impulse«.
MALZACHER: Aber plötzlich ist das Wohnzimmer Metapher für die westliche Gesellschaft. Gob Squads »Western Society« ist ein melancholischer Abgesang als Selbstporträt. Für mich geradezu ein Wendepunkt in der Arbeit von Gob Squad.
K.WEST: Gob Squad stellt ein dreiminütiges Youtube-Video einer Kara-oke-Party in Kalifornien nach. Und verdichtet es zur Recherche des kommunikativen Overkills und seines gleichzeitigen mittelbaren Leerlaufs, der sich selbst mit seinen goldigen Nach- und Darstellern in müder Trance inszeniert. Alles spiegelt und doppelt sich, bis am Ende das iPhone abgestellt wird.
MALZACHER: Als würde ein Fernglas verkehrt herum auf die westliche Gesellschaft gehalten.
K.WEST: Schärfung durch Entfernung. Das Motto der »Impulse« heißt »Gesellschaftsspiele«.
MALZACHER: Unsere aktuelle Ausgabe fragt: Wer wird wie repräsentiert, warum und mit welchem Recht? Da stellt sich das Theater gerade exakt die selben Fragen, mit denen auch unsere westlichen Demokratien konfrontiert werden. Deshalb wird bei Gob Squad plötzlich ihre permanente Selbstrepräsentation irritiert. Als Gegenstück dazu kann man »Das neue schwarze Denken – Chefferie« von Gintersdorfer/Klassen verstehen, die seit vielen Jahren mit Künstlern aus Afrika arbeiten. Immer mehr haben sie mit der Zeit – inhaltlich und dramaturgisch – die Verantwortung an ihre Akteure abgegeben. Das Modell dieser Performance ist »Chefferie«, ein administratives Modell, das es bereits vor der Kolonialisierung Schwarzafrikas gab und das sich als Versammlung gleichberechtigter Chefs bezeichnen lässt.
K.WEST: Ja, hab’ ich verstanden, bei Gintersdorfer/Klassen geht es bei einem Tanz-Match auf dem Spielfeld um Machtfragen, Erfolgsstrategien, Privilegien, Diskriminierung etc. Wobei sich die Spieler in körperlich atemloser Weise verrennen. Während wir bei Milo Rau wieder zur Ruhe kommen und in einem Wohnzimmer sitzen, aber nicht gemütlich. Für mich die komplexeste Aufführung.
MALZACHER: Rau geht den umgekehrten Schritt wie Gob Squad. Das Wohnzimmer öffnet sich nicht als Tor zur Welt, sondern die Welt verkleinert sich zum intimen Raum. Die Schauspieler befragen sich und uns selbst.
»The Civil Wars« ist eine sachliche Kampfansage an unsere westliche Gesellschaft und platziert den Bürgerkrieg in der guten Stube. Mit brennender Besorgnis von der Frage bewegt, was im Westen groß gewordene Jugendliche antreibt, zu Gotteskriegern zu werden, hatte Milo Rau zunächst eine Recherche über belgische Salafisten geplant, die in Syrien für den Islam kämpfen. Übrig blieb die Rahmenerzählung über einen Dschihadisten, der durch seinen Vater heimgeholt werden soll. Von dessen Wohnung, auf der Bühne nachgebaut und in Nachbarschaft gebracht zu einer von Barockmusik umspülten Theaterloge, geht es hinaus in die Welt. Das Setting schafft Distanz und zugleich eine intime Situation. Die Grundidee spiegelt sich nun – in seltsamer Analogie – in den Biografien der Schauspieler, die u.a. eine Szene von Tschechows »Kirschgarten« sprechen – eine traurige Komödie darüber, dass sich alles verändert und altmodische Gefühle kapitalisiert werden.
Zielrichtung und Motivation ist eine andere, die Problemstellung aber vergleichbar. »Ich werde in einer Welt aufgewachsen sein, in ihr gelebt haben und in ihr sterben, ohne an einer einzigen kollektiven Aktion teilgenommen zu haben, um sie zu verbessern«, sagt Sébastien Foucault der Kamera. So entsteht ein Soziogramm en miniature. Doku-Theater, gebaut aus Interviews und Gesprächs-Protokollen junger Menschen, nachgestellt durch Akteure, die es sich auf der Bühne bequem machen. Recht gewitzt, wenn jemand sein Aufwachsen in Paris in einem Quartier mit Straßennahmen nach berühmten Musikern (Rue Couperin) mit seiner Liebe zur Oper assoziiert. Es geht um abwesende (tote, psychiatrisch versorgte, abgewiesene) Väter und verlorene Söhne. Die NZZ sprach von einer sozialpolitischen »Psychoanalyse des alten Kontinents«. Themen sind Kapitalismus, Neoliberalismus, Armut und Arbeitslosigkeit, Migration, Wurzellosigkeit und Extremismus, die Klimakatastrophe und die Festung Europa. Letztlich sammeln sich Restbestände des Projekts 68.
MALZACHER: Da schließt das nur scheinbar private Beispiel »Riding on a Cloud« des libanesischen, in Berlin lebenden Künstlers Rabih Mroué an, der seinen eigenen Bruder einlädt, auf der Bühne einen Charakter darzustellen, der dem Seinen ähnlich ist: jemand, der im Bürgerkrieg verwundet wurde und seither eine neuronale Störung hat, die ihm die Fähigkeit nimmt, die Realität in Worten und auf Bildern wiederzuerkennen, der also buchstäblich Repräsentation nicht mehr versteht.
K.WEST: Sie sagen also, das Wohnzimmer verschiebt seine Dimensionen und ist kein Ich-zentrierter Ort.
MALZACHER: Beziehungsweise: Es gibt keine Wohnzimmertür, die sich schließen lässt. Alles ist sperrangelweit offen: »Anonymous P.« von Chris Kondek & Christiane Kühl handelt von Datenströmen und Informationsflüssen, vom Sammeln, Speichern und Weitergeben von Daten zu kommerziellen oder politischen Zwecken. P. steht für Prometheus, der den Göttern das Feuer stahl und den Menschen Erkenntnis brachte – heute gibt es keine Möglichkeit mehr nicht im permanenten Licht zu stehen.
K.WEST: Kehren wir zum Gesellschaftsspiel zurück. Das hat zweierlei Aspekt: den politisch-sozialen und den ästhetischen. Der erste ohne den zweiten ist dröge, der zweite ohne den ersten belanglos.
MALZACHER: In den 1970er und 80er Jahren lag der Schwerpunkt auf dem ersten Aspekt. Danach rückte die Form in den Mittelpunkt. Mein Eindruck ist, dass viele Künstler heute nach einem Theater suchen, dass sowohl in seinen Inhalten als auch in seiner Form politisch ist. Das ist eine starke Suchbewegung, oft ohne befriedigende Antworten – auch weil alles komplexer geworden ist und diffuser. Vielleicht brauchen wir gerade etwas Geduld und sollten mit Interesse und Wohlwollen diesen Suchbewegungen folgen, die ja auch unsere gesellschaftlichen Suchbewegungen sind. Wir beziehen uns in diesem Jahr stark auf den philosophischen Ansatz von Chantal Mouffe. Ihr Konzept des Agonismus geht davon aus, dass unser permanenter Wunsch nach Konsens gefährlich ist, dass wir vielmehr den Dissens offen austragen müssen – aber nicht als Krieg, sondern spielerisch und zugleich hart und ernst.
K.WEST: Zum Gesellschaftsspiel gehört, was derzeit in Berlin diskutiert wird und entschieden wurde. Die neue Intendanz der Volksbühne. Ein Impuls? Oder ein Umleiten von Impulsen?
MALZACHER: Aus Sicht des Stadttheaters mag das ein kompletter Bruch sein, wenn der Kurator Chris Dercon berufen wird, aus Sicht des freien Theaters ist es relativ plausibel und im Kern – unabhängig davon, ob man Dercon für die beste Wahl hält – nicht schockierend; es steht durchaus in einer Kontinuität, wenn man etwa an die großen Theaterhäuser in Belgien denkt.
K.WEST: Ein weiteres Gesellschaftsspiel ist die Sicherung des Festivals. Ist es schwieriger, Unterstützung für die »Impulse« zu bekommen. Sie finden nun jährlich statt, aber etwas amputiert – mit einer Stadt als Zentrum, diesmal Mülheim an der Ruhr, und zwei Satelliten, 2015 Düsseldorf und Köln. Gar nicht so schlecht, oder?
MALZACHER: Fürs Festival ist es viel besser, in einer Stadt konzentriert zu sein. Die Leute reisen selbst in NRW nicht so viel, wie behauptet wird. Auch dass es nun wieder jährlich stattfindet, ist hervorragend. Es war ein schwieriger Weg dahin, Partner sprangen ab andere fragten, ob das Festival überhaupt noch nötig sei. Bis sich alle Beteiligten zusammensetzten: Land NRW, die Kunststiftung und natürlich die Städte und das KULTURsekretariat als Veranstalter. Durch die Unterstützung von Monika Grütters’ Bundesministerium ist das Festival nun auch 2016 gesichert. Und es gibt Signale aus Berlin, das zu verstetigen.
K.WEST: Ein Festival kann im besten Fall verdichten, Dialog sein und gegenseitiges Reagieren. Wie ist das 2015? Ihr Vorgänger Tom Stromberg gab zu den 15. Impulsen in K.WEST die Parole der Themen aus: Armut/Reichtum, Pubertät/Sexualität, Perücken/Coolness, Schwarz/Weiß, Leben/Tod, Applaus/Buhs. Zehn Jahre später, wie resümieren Sie?
MALZACHER: Klar, Leben/Tod, darum geht es noch immer. Schwarz-/Weiß stimmt auch – aber vielleicht auf andere Weise. Denn uns interessiert vor allem: Wer ist auf der Bühne und spielt warum und mit welchem Recht? Und wer ist nicht auf der Bühne? Und – Welche Gesellschaft wollen wir?
K.WEST: Herr Malzacher, haben Sie nicht gelegentlich Sehnsucht, in einem bequemen Theatersessel eine geschlossene, klassisch erzählerische Aufführung zu sehen. So ein richtiges Stück.
MALZACHER: Das Theater ist für mich nicht der beste Ort für den bequemen Sessel. Den Überschuss an Narration hole ich mir bei amerikanischen Serien von HBO oder Netflix. Ich glaube problemlos an Kevin Spacey als US-Präsident in »House of Cards«. Aber auf der Bühne funktioniert so was nicht. Wenn ich im freien Theater auf den Auftritt des Königs warte, dann werde ich enttäuscht nach Hause gehen.
»Silent University Ruhr«
Besondere Aufmerksamkeit verdient und langfristig angelegt ist das von dem Kurden Ahmet Ogut initiierte, ursprünglich an der Tate Modern angesiedelte Projekt, das Urbane Künste Ruhr und der Ringlokschuppen weiterführen werden. Diese Open University, in der Mülheimer Dezentrale verortet, bietet geflüchte-ten und emigrierten Akademikern ein besonderes Asyl, in dem sie wissenschaftlich arbeiten, unterrichten und lehren können. Es soll mehr als eine Geste sein und will »das verstummte Wissen wieder hörbar machen«.
11. bis 20. Juni 2015; Mülheim an der Ruhr, Düsseldorf, Köln; Hauptspielorte: Ringlokschuppen, Dezentrale, FFT Düsseldorf, studiobühneköln; www.festivalimpulse.de