»Was das Leben aus uns gemacht hat, dafür kann keiner was.« An diese Überzeugung klammert sich Mary Tyrone mit der Verzweiflung einer Ertrinkenden. Sie ist ihre letzte Planke. Wenn sie die auch noch verliert, versinkt sie für immer in den Fluten eines Lebens, deren Strömungen sie in einen Strudel aus Selbsthass gezogen haben. Wie Astrid Meyerfeldt diesen einen zentralen Satz sagt, das geht durch Mark und Bein. Er klingt fast beiläufig, als wäre es keine große Sache. Aber die Abgeklärtheit, die sie damit zur Schau stellen will, ist nur Fassade. Die Ausweglosigkeit der Süchtigen und die Sehnsucht der Enttäuschten schwingen in Astrid Meyerfeldts Intonation mit. Was Mary Tyrone verbergen will, legt sie mit ihrer luziden Darstellung offen.
Gefangene ihrer Biografie
Aber nicht nur die Morphinistin hat ihr Leben um diese Entschuldigungsformel herum gebaut. Auch für Luk Perceval steht sie im Zentrum von Eugene O’Neills autobiographisch geprägtem Familienstück. Mary mag sich mit diesen Worten selbst belügen, aber sie enthalten einen wahren Kern. Alle Mitglieder der Tyrone-Familie sind zu einem gewissen Grad Opfer ihrer Lebensumstände. Was sie von Kindheit an erlebt haben, hat sie eher deformiert als geformt. Sie sind Gefangene ihrer Biografie, eingesperrt in einem Ich, das keinen Weg mehr zu einem Wir findet. Als Ausdruck dieser zerstörerischen Vereinzelung haben Perceval und sein Bühnenbildner Philip Bußmann einen eindrucksvollen Raum erschaffen, der das Haus der Tyrones tatsächlich in ein Gefängnis verwandelt.
Ein riesiger Holzkasten füllt die imposante Breite der großen Spielstätte im Depot. Auf einer Höhe von gut zwei Metern sind fünf weiße Räume in diesen Kasten eingelassen, die nicht direkt miteinander verbunden sind. Alle gleichen kalt ausgeleuchteten Zellen. In diesen fünf Zimmern, in denen es mit Ausnahme eines einzigen Sessels und eines Klaviers samt kleinem Schemel keine Möbel und Requisiten gibt, leben der Schauspieler James Tyrone, seine Frau Mary, ihre Söhne Jamie und Edmund und das Dienstmädchen Cathleen nebeneinander her. Selbst wenn sie mal in einem der Räume zusammenkommen, schauen sie sich nicht an. Direkte Interaktionen gibt es nur in den von Cathleen gesprochenen Regieanweisungen, die Percevals Ensemble schlicht ignoriert. Erst im weiteren Verlauf des Tages, wenn sich die Männer dem Whiskey hingegeben haben und sich Mary ins Morphium geflüchtet hat, beginnen die Tyrones, einander wahrzunehmen. Nur im Rausch können sie für Momente vergessen, was das Leben aus ihnen gemacht hat.
Überwältigender Humansimus
Eine eisige Kälte liegt über diesen fünf Räumen. Ihre Bewohner sind schutzlos. Perceval nimmt ihnen alles, woran sie sich festhalten. So bleiben seinen Darsteller*innen nur ihre Intuition. Sie spielen in dieser Inszenierung erst einmal für sich, sind expressiv wie Seán McDonagh als älterer Sohn oder in sich verschlossen und doch brodelnd wie Nikolay Siderenko in der Rolle seines Bruders. Astrid Meyerfeldts quecksilbriges Auftreten steht dabei in Kontrast zu André Jungs fast stoischem Spiel. Meist sitzt oder steht er einfach da und bemitleidet sich selbst. Kein Wunder, dass dieser James Tyrone alle um sich herum zur Weißglut bringt oder in die Sucht treibt. Dennoch ist er kein Monster. André Jung verleiht ihm eine anrührende Unsicherheit. Man ahnt, dass ihnen allen das Leben geschehen ist. Je tiefer sie in ihre Figuren eintauchen, desto größer wird das Verständnis für ihre Schwächen. Aus Percevals schonungslosem Blick erwächst ein überwältigender Humanismus.
12., 14., 15. und 29. Dezember, Depot 1 www.schauspiel.koeln/