// Irgendwann musste es mal so weit kommen. Im Laufe des Jahres wird es passieren. Dann werden mit der Sopranistin Johanna Koslowsky und dem Tenor Wilfried Jochens die letzten beiden Ur-Mitglieder von »Cantus Cölln« ausscheiden. Schließlich werden Sänger in mehr als zwanzig Jahren auch nicht jünger. Naturgemäß erreicht man einen Zeitpunkt, bei dem die Stimmphysiognomie ihren Zenit überschritten hat, und es tritt ein, was Konrad Junghänel »natürliche Fluktuation« nennt. Bei einem Vokalensemble, das sich gerade mal aus fünf Stimmen zusammensetzt, erfordern Neubesetzungen Fingerspitzengefühl. Aber Junghänel hat einen fließenden, organischen Wechsel immer noch hinbekommen. Bis heute ist er als Gründer, Dirigent und alleiniger Chef von »Cantus Cölln« verantwortlich dafür, dass die Klang-Homogenität genauso der Star bleibt, wie das Timbre jedes Mitglieds eigene und besondere Zutat liefert.
»Cantus Cölln« hat sich damit nicht nur den Ruf als einer der führenden Chöre für Alte Musik erworben. Dass der Ensemble-Sound längst die Qualität eines Markenprodukts besitzt, kann Junghänel u. a. an einer Besprechung belegen, die es ihm besonders angetan hat. In einer englischen Rezension las er einmal, dass »Cantus Cölln auch das Telefonbuch singen könnte – man würde immer Cantus Cölln erkennen.
Das unverkennbare Stimmprofil ist nur die eine Seite der Erfolgsmedaille der Gruppe. Im dritten Jahrzehnt sorgt sie mit Kompositionen aus dem 16. und 17. Jahrhundert für neue Hörperspektiven. Ob es kaum bekannte geistliche Werke zum Beispiel eines Johann Rosenmüller oder Giaches de Wert sind oder eine Aufnahme früher Bach-Kantaten, mit dem Konzept der solistisch gesungenen Fünfstimmigkeit leistet man kontinuierlich Pionierarbeit beim Repertoire und in der Aufführungspraxis. Andererseits weiß Junghänel, der Mann mit dem markanten blonden Pagenschopf, nur zu gut, dass auch die engagierteste Ausgrabung manch eine Fehlerquelle behalten wird. Weshalb er im Gegensatz zu vielen Kollegen aus der Alte-Musik-Bewegung mit Modebegriffen wie »Werktreue, Authentizität und Rekonstruktion« lieber vorsichtig umgeht.
Gewiss war das Quellenstudium auch für ihn unerlässlich, als er 1987 in der Metropole für Alte Musik den »Cantus Cölln« aus der Taufe hob. Die Archivarbeit schlug für ihn in der Szene jedoch zu schnell in eine Art Dogmatismus um: »Vieles von dem, was man studiert hatte, wurde eins zu eins als Wissenschaft in Musik umgesetzt«, erinnert sich Junghänel. »Aber Musik hat – wie Kunst überhaupt – bedingt nur mit Wissen zu tun. Wissen ist eine Grundvoraussetzung im Hinterkopf, beim Musikmachen sollte man es aber nicht zu sehr in den Vorderkopf kommen lassen.«
Der Leitsatz bestimmt von Beginn an die Arbeit. Es ging mehr um das Funktionieren einer solistisch besetzten Interpretation, weniger um die historisch bis aufs I-Tüpfelchen korrekte Nachweisbarkeit. Zwar versucht Junghänel, der vor den Toren Kölns in Brühl lebt, dem Original so nahe wie möglich zu kommen. Aber was mehr zählt, ist der Geist, der einem Musikstück inne wohnt. Um den in seinem Herz-Rhythmus-System zu treffen, muss Junghänel entsprechende Grenzen im Repertoire setzen. Immer wieder werde er gefragt, warum er nicht auch englische oder französische Musik der Renaissance und des Barock ins Programm aufnimmt. Stets lautet seine Antwort: »Als Nicht-Muttersprachler könnte ich da nicht so tief vordringen wie in die von uns bevorzugte deutsche und lateinische Musik.«
Was auf den ersten Blick und im Vergleich zu den meisten enzyklopädisch wirkenden Alte Musik-Dirigenten als Einschränkung verstanden werden könnte, zeigt sich bei Junghänel als fast ehrfürchtiges Verständnis von Wahrhaftigkeit. Halbe Sachen im Sinne einer Annäherung an eine fremde Musiksprache sind für ihn Zeitverschwendung. Zumal gerade die ausschließlich bearbeitete Länderachse Deutschland–Italien ihm nicht nur vom Sprachduktus und -fluss her vertraut ist. Beider Notenarchive sind weiterhin bis zum Bersten gefüllt, wenngleich Junghänel einschränkt, dass »davon ruhig 90 Prozent weiter in den Bibliotheken liegen bleiben dürfen«.
Dass zwischendrin aufregende Überraschungen schlummern, bis sie von Junghänel wach geküsst werden, lässt sich nicht nur an der mit Preisen überhäuften Diskografie von »Cantus Cölln« ablesen. Als aktueller Coup erschien nun bei »Harmonia Mundi« die weltweit erste Einspielung der »Marienvesper« eines gewissen Virgilio Mazzocchi (1597-1646). Mit dem Bruder des Römers, mit Domenico Mazzocchi, war der Opern-Dirigent Junghänel bereits vertraut. Mit Virgilio, der als Kapellmeister an der Cappella Giulia beim Petersdom Nachfolger Palestrinas war, betritt er indes absolutes Neuland. Auf den souveränen Meister des alten kontrapunktischen Stils und bedeutenden Vermittler des Stile nuovo hatte ihn vor zwei Jahren ein Musikwissenschaftler gebracht. Erst jetzt ist man ins Studio gegangen. »Schließlich hat es noch nie geschadet, den Schinken etwas abhängen zu lassen, weil unterdes immer wieder neue Fragestellungen auftauchen.«
Einig war man sich darüber, dass man die Vesper, die es in dieser Form gar nicht gibt, in einen musikhistorisch adäquaten Gesamtzusammenhang bringt, indem man den Psalmen Mazzochis geistliche Konzerte etwa eines Frescobaldi beigesellt. Solche Repertoire-Nischen mögen zwar für Schallplattenfirmen ein Wagnis sein. Aber mit Junghänels im französischen Arles beheimatetem Label war abgemacht, dass nach 80.000 verkauften Bach-Kantaten-CDs ein kleines Risiko eingegangen werden könne.
Überhaupt ist das, was Junghänel mit seinen Kombattanten macht, oft eine Kalkulation, die bis an den Rand der »Selbstausbeutung« geht. Denn während in Deutschland Orchester-Subventionen reichlich fließen, sind die Honorare bei der Alten Musik häufig so spärlich, dass man selbst für Auslandskonzerte keinen Extra-Probentag einplanen kann. Folglich muss jeder bei »Cantus Cölln« mehrgleisig fahren. Die Sänger verfolgen weiterhin ihre Solo-Karriere. Junghänel ist seit 1994 Professor an der Kölner Musikhochschule und hat auch eine erfolgreiche Karriere als Operndirigent eingeschlagen. Nur für ein Instrument hat der 1953 in Gütersloh geborene Junghänel kaum mehr die nötige Zeit, obwohl er an der Laute einer der Besten seines Fachs gewesen ist. Allein 1985 habe er rund 140 Lautenabende gegeben, rechnet er nach.
An dem Saiteninstrument begann Anfang der 70er Jahre seine musikalische Sozialisation, als er das »unverschämte Glück« hatte, mit Stars der ersten Alte Musik-Generation zusammenzuarbeiten, mit Gustav Leonhardt und Nikolaus Harnoncourt, den Kuijken-Brüdern, William Christie und vor allem mit dem Countertenor René Jacobs. Wenngleich die Zeiten gemeinsamer Konzerte weit zurückliegen und Junghänels Lautenkünste geschwunden sind, besteht bis heute eine enge Freundschaft zwischen ihm und Jacobs. »Wir haben nicht miteinander gebrochen, wie das aus reinem Konkurrenzdenken oft in der Alte Musik-Szene passiert.«
So stark ihn das Duo mit Jacobs geprägt hat, gibt es noch einen zweiten Namen, ohne den »Cantus Cölln« vielleicht nicht entstanden wäre. Es war das von dem englischen Countertenor Alfred Deller gegründete Consort, das Junghänels Begeisterung für die Alte Musik auslöste. Sieht man sich in dem heutigen Alte Musik-Betrieb und bei den neu gegründeten Vokalensembles um, scheint Konrad Junghänel selbst zum Vorbild geworden zu sein. Was angesichts seines Verständnisses von Forschungsarbeit, musikantischer Makellosigkeit und Empfindungsreichtum nicht Wunder nimmt. //