1984 wurde im Rheinischen Revier die erste Braunkohle gefördert, schon in den Jahren davor hat man erste Dörfer umgesiedelt, große Teile des Hambacher Forsts gerodet. Ungefähr seit dieser Zeit ahnten die Menschen im zur Gemeinde Merzenich gehörenden Dorf Morschenich, dass der Ort, in dem ihre Familien teils seit Jahrzehnten lebten, keine Zukunft haben würde. Nach überraschenden Wendungen gilt Morschenich, das mittlerweile »Morschenich-Alt« heißt und weitgehend verlassen ist, heute als »Ort der Zukunft«.
Die Planungen des Energieunternehmens RWE sahen eigentlich vor, dass Morschenich von 2019 bis 2024 abgerissen wird. 2015 begannen die Umsiedlungen. Viele Einwohner fanden ein neues Zuhause in Morschenich-Neu. Die überraschende Wende kam mit den Protesten von Klima-Aktivisten gegen den Abriss des Hambacher Forsts, die auf eine gesamtgesellschaftliche Stimmung für neue, CO2-neutrale Formen der Energiegewinnung trafen. Eine Kommission der Bundesregierung empfahl den Kohleausstieg bis 2038, die neue Ampelkoalition will jetzt sogar noch acht Jahre früher aussteigen. Im Januar 2020 erklärte RWE, auf den Abriss von Morschenich-Alt zu verzichten.
Zwei Jahren später begann bei der Gemeinde Merzenich Lennart Schminnes seine Arbeit. Zusammen mit Kollegin Anna Hecker ist er Teil des »Teams Zukunft« und soll den Strukturwandel des Dorfs managen. Das ist keine einfache Aufgabe. »Es war für viele eine große emotionale Herausforderung als man vor 20, 30 Jahren angefangen hat, die Menschen auf die Umsiedelung vorzubereiten«, weiß Lennart Schminnes. »Sie mussten sich mit dem Gedanken auseinandersetzen: 2025 wird dort nichts mehr sein. Viele Bewohner haben deshalb gesagt: Wenn der Ort wegkommt und unter der Prämisse des Allgemeinwohls geopfert wird, dann soll er wirklich wegkommen.«
Jetzt kommt er aber doch nicht weg – und die Frage ist: Wer soll dort leben? Wie soll wieder Leben in die Straßen des Geisterdorfs kommen? Derzeit leben fast ausschließlich die über hundert Geflüchteten in Morschenich-Alt, die mit der großen Welle 2015/16 ins Land kamen. Die ehemalige Kindertagesstätte wird für sie als sozialer Treffpunkt betrieben. Dort finden sie Deutschkurse und die Flüchtlingshilfe berät bei (alltags)praktischen Fragen. Es gibt zwar ehemalige Bewohner*innen, die sagen: Wenn neues Leben ins Dorf zurückkehrt und neues Arbeiten – dann kommen wir zurück. Das Problem dabei: Die Eigentumsverhältnisse haben sich meistens geändert, RWE hat viele Immobilien aufgekauft. Und viele sind Jahre nachdem sie verlassen wurden in einem schlechten Zustand. Merzenichs Bürgermeister Georg Gelhausen will trotzdem nach Möglichkeiten versuchen, solche Wünsche zu erfüllen.
Strukturwandelmanager Lennart Schminnes beschreibt die Atmosphäre im Dorf so: »Es ist ein traditionelles Straßendorf wie es im Rheinischen Revier oft zu finden ist, und als solches gut erhalten – wie ein Insekt aus der Urzeit im Harz eingefangen. Aber es ist auch gespenstisch, durch die engen Straßen zu gehen. Im Ort ist das Leben der Menschen abzulesen, aber es sind keine Menschen mehr dort.«
Um Menschen für das Leben (zurück) zu gewinnen, will das »Team Zukunft« Morschenich-Alt als »Zukunftsregion Agrar und Klima« positionieren. Dafür sind eine Menge Projekte angedacht: Weil das Dorf zu einer landwirtschaftlichen Gemeinde gehört, soll dort innovative Landwirtschaft erprobt werden. »Wir wollen zeigen, dass Landwirtschaft zu Unrecht ein schlechtes klimatisches Bild abgibt«, sagt Lennart Schminnes. »Angedacht ist deshalb der Aufbau einer Photovoltaik-Anlage, unter der noch landwirtschaftliche Flächen liegen. Zusammen mit dem Forschungszentrum Jülich arbeiten wir an der Frage: Wir reagieren Pflanzen darauf, wenn sie auf verschatteten Flächen wachsen?«
Eine andere Idee ist die Erprobung neuer Baustoffe und Bau-Methoden. »Wir möchten ein Beispiel dafür geben, wie man zum Beispiel ohne Verbundmaterialien auskommen kann. Zement und Beton machen eine schlechte CO2-Bilanz – die Stoffe sind schlecht recyclebar und energieaufwendig in der Herstellung. Sand, Quarze und Steine sind fossile Ressourcen«, sagt der Strukturwandelmanager. Stattdessen wolle man erproben, wie man zu erneuerbaren Baustoffen finden kann oder zu einem Kreislauf von Verwertung und Wiederverwertung. Lehm ist eine Möglichkeit, aber auch Holz, Hanf und andere Faser- und Pflanzenstoffe könnten im Bau Anwendung finden. »Materialien, die keinen Ausschlag in der CO2-Bilanz geben oder immer wieder eingesetzt werden können, sind etwa Hanf- oder andere Faserstoffe.«
Gute Chancen, ein Ort mit hoher Lebensqualität zu werden, hat Morschenich, weil es im »Neuland Hambach« liegt. Im irgendwann abgeschlossenen Braunkohle-Tagebau soll zum Beispiel ein See entstehen. »Damit haben wir einen Freizeitwert«, sagt Lennart Schminnes: »Es gibt einen Seezugang und mit dem Rest des Hambacher Forsts, der zum Aushängeschild für die Region geworden ist, einen Wald, der erlebbar ist als Naherholungsgebiet«. Man kann sich dieses zukünftige Naherholungsgebiet wie die Parks und Seen im Ruhrgebiet vorstellen, die an die Vergangenheit des Bergbaus und der damit einhergehenden Kultur erinnern. »Die Sohlen, die sich langsam mit Wasser füllen, wollen wir nutzen – zum Beispiel für schwimmende Solar-Anlagen.« Auch über Windenergie denken die Strukturwandler nach.
Bis der See, der langsam aus Grundwasser-Rückfluss und dem Wasser des Rheins gespeist wird, voll entstanden ist, wird es allerdings wohl 60 oder 70 Jahre dauern. Das heißt, selbst Menschen, die heute Kindern sind, werden das spektakuläre neue Wassergebiet, das an seiner tiefsten Stelle 450 Meter tief – also eine Art Mariannengraben des Rheinlands – sein wird, nicht mehr unbedingt erleben. Wie wird sich das Mikroklima verändern? Welche Kultur wird im Neuland Hambach und der Zukunftsregion Agrar und Klima entstehen?
Lennart Schminnes hofft auf eine ähnliche Erfolgsgeschichte, wie sie in einigen Städten des Ruhrgebiets geschehen ist: Rund 10.000 Arbeitsplätze sind durch das Ende des Braunkohle-Tagebaus direkt betroffen, wahrscheinlich rund fünfmal so viele in daran anknüpfenden Wirtschaftssektoren. Die müssen in neuen Feldern erstmal wieder entstehen – in einem Gebiet, das nicht so verdichtet und so leicht auf den Dienstleistungssektor umzustellen ist, wie das Ruhrgebiet. »Wir sind optimistisch, dass wir das schaffen können«, sagt der Strukturwandelmanager. Das ist schließlich sein Job.
Am 1. Juni findet in der Abtei Brauweiler die Kulturkonferenz 2022 des Landschaftsverbands Rheinland (LVR) statt. Neben Handlungskonzepten und Innovationsstrategien, die sonst vor allem Industrie und Energiewirtschaft in den Fokus nehmen, wollen die Veranstalter*innen sich der Frage widmen, welche Rolle und vielleicht sogar welche Aufgabe Kultur in diesem Prozess hat: »Gemeinsam mit den Teilnehmer*innen untersuchen wir, ob und inwiefern die Kultur der ihr vielfach zugeschriebene Funktion als Motor von Transformationsprozessen gerecht werden, welchen Beitrag sie leisten kann«, heißt es in der Ankündigung. Bei der Konferenz ist im Rahmen der Spotlight-Veranstaltungen auch ein Vertreter aus Morschenich zu Gast. Anmeldung unter: www.lvr.de/kultur