Manchmal muss man Utopien von deren Ende aus denken. Sich an den Punkt begeben, der einen besseren Überblick über die Dinge bietet. In die Zukunft beispielsweise, an die Stelle, wo aus der Utopie eine Realität geworden sein und von der man einen Blick auf die vergangenen Jahrzehnte werfen könnte. Jörg Albrecht hat sich dafür den »drückenden 12. September 2044« ausgesucht, »an dem der gigantische Moloch sein Ende finden wird«.
Dieser Moloch ist Ruhrstadt – zusammengewachsen aus den 53 Gemeinden des Ruhrgebiets: die „54. Stadt“. Auferstanden in Ruinen, ein interkultureller und postindustrieller Schmelztiegel voller Musiker, Filmemacher, Literaten, Mode- und Grafikdesigner. Die Strategien der Kreativwirtschaft wurden in den vergangenen Jahrzehnten konsequent umgesetzt, jedem der Stadtteile wurde ein Kreativwirtschaftszweig zugeordnet – Essen ist z.B. für die Film- und Fernsehproduktion zuständig, Dortmund für die Mode, und die Schriftsteller wohnen und arbeiten im beschaulichen Wesel. Doch gegen diese schöne neue Welt beginnt sich schließlich Widerstand zu regen – es herrscht »Anarchie in Ruhrstadt«.
VOM STAHL ZUM RAUMGLEITER
Jörg Albrecht blickt in seinem gleichnamigen Science-Fiction-Roman nur 30 Jahre in die Zukunft; wie viel Veränderungspotenzial aber in diesem Zeitraum steckt, sieht man, wenn man von heute aus 30 Jahre zurückblickt. 1984 existierte noch die Schwerindustrie, sie war noch nicht Weltkulturerbe geworden oder Naherholungs-Tümpeln gewichen, aber Herbert Grönemeyer sang bereits auf seiner jüngst erschienenen LP »4630 Bochum« tapfer gegen ihren Niedergang an – »Du hast’n Pulsschlag aus Stahl, man hört ihn laut in der Nacht«.
Dass man im Jahr 2044 mit Luftgleitern über eine riesige Metropole und ein völlig neues Wirtschaftssystem gleitet, klingt da gar nicht mehr so unlogisch. Mit Science-Fiction – »Sternstaub, Goldfunk, Silberstreif« (2008) – und dem Geworfensein in die Kreativwirtschaft – »Beim Anblick des Bildes vom Wolf« (2012) – hat sich Jörg Albrecht, der 1981 in Bonn geboren wurde, in Dortmund aufwuchs, in Bochum und Wien Geschichte, Literatur- und Theaterwissenschaften und Komparatistik studierte, bereits literarisch beschäftigt. Warum aber gerade das Ruhrgebiet als Ort für so einen Roman? »Ich hatte schon länger vor, ein Buch übers Ruhrgebiet zu schreiben«, sagt er. »Auch über die Schönheit, die man nur sieht, wenn man sich ein bisschen Zeit lässt. Über die Chancen, die es vielleicht hat. Aber es hat auch gedauert, bis ich die richtige Perspektive gefunden habe, die, die von der Zukunft aus auf die Gegenwart blickt.«
Diese Zukunft hat Albrecht in »Anarchie in Ruhrstadt« munter popkulturell zusammenzitiert: »Ja, im Roman sind viele Referenzen gelandet, mehr noch filmische als literarische. Unter anderem auch die ›Hunger Games‹-Filme und der russische Stummfilm ›Aelita‹, der quasi die sowjetische Variante von ›Metropolis‹ ist. Und, sehr empfehlenswert, Adolf Winkelmanns ›Super‹ von 1984 mit Renan Demirkan, Udo Lindenberg, Tana Schanzara, Hermann Lause, Ulrich Wildgruber. Ich kannte den vor meiner Recherche nicht und war begeistert, dass es so einen wahnsinnig klugen, spielerischen, witzigen Ruhrgebiets-Endzeitfilm gibt.«
Im Roman wird die Kreativwirtschaft zu einem, von oben aufgedrückten, gesellschaftlichen Kitt, der die Ruhrstadt zusammenhält, auch weil auf einmal Platz da ist für Neues. Nachdem 2015 das RVR-Ruhrparlament die Eingabe des Kreativ-Komitees ablehnte, die einzelnen Städte zu einer zu verbinden, und nachdem »eine Gruppe radikaler Bodypainter zur Abwechslung kein verlassenes, stillgelegtes, sondern ein niegelnagelneues Versicherungsgebäude in Wanne-Eickel besetzte und einer der Besetzer von Polizisten ins Koma geprügelt wurde, verkündet Hannelore Kraft den Rückzug aus dem Ruhrgebiet.« In den folgenden Jahren vollzieht sich ein radikaler Wandel, urban wie gesellschaftlich. 2029 wird Duisburg geräumt und abgerissen und sich selbst überlassen.
Es entwickelt sich ein »Kreativ-Sozialismus«, der sich bei näherer Betrachtung immer mehr als Zwangskollektivismus entpuppt. Die Bevölkerung hat Anwesenheitspflicht bei allen kulturellen Veranstaltungen und muss in jenen Stadtteil ziehen, der für den jeweiligen Beruf vorgesehen ist. Einen Game-Designer würde man außerhalb Mülheims vergeblich suchen. »Die Kreativwirtschaft ist kein Ausweg für das Ruhrgebiet«, betont Jörg Albrecht. »Sie sollte auch nirgendwo sonst überbewertet werden. Vor allem sollte Kunst nicht vermarktbar sein müssen und Kreativität nicht zum Standortfaktor degradiert werden, sondern Teil einer sozialen Gesellschaft sein. Als Künstler bin ich Teil dieser Gesellschaft, und die ist wichtiger als Branding oder Vermarktung.« Vor diesem Hintergrund schickt Albrecht zwei Menschen durch seine Ruhrstadt – Rick Rockatansky und Julieta Morgenroth taumeln auf der Suche nacheinander durch diese irrsinnige Landschaft und begegnen altgewordenen Punks, Anarchisten, Kreativdarstellern und Sektenangehörigen, bevor sie unter der »Donnerkuppel« endlich aufeinander treffen.
Viel Stoff für einen normalen Theaterabend. Die »54. Stadt – Das Ende der Zukunft« ist dementsprechend eine sechsstündige Theatertour durch das Ruhrgebiet. Vier Kollektive, die sich bereits in der Vergangenheit mit dem Ruhrgebiet auseinandergesetzt haben, arbeiten dabei inszenatorisch zusammen. »Der Roman ist die gemeinsame Basis der Tour«, sagt Jörg Albrecht. »Aber alle einzelnen Gruppen setzen eigene Schwerpunkte, bedienen sich bestimmter Motive und Figuren aus dem Text.« Zum Auftakt wird das »kainkollektiv« im Ringlokschuppen in Mülheim an der Ruhr mit einer raumgreifenden Installation »die Reste von Gemeinschaft zelebrieren«. Im mittleren Teil geht es aus dem Theater hinaus in die Städte, dann muss sich das Publikum entscheiden, ob es mit dem Kollektiv »Ligna«, den Pionieren des Audiowalks, die schon bei den Mülheimer Stadtspielen »SchlimmCity« und »Momentanindustrie« dabei waren, die »Niemandsländer aus Vergangenheit und Zukunft« im Mülheimer Stadtraum okkupieren möchte, oder sich aber »Invisible Playground« im Oberhausener Stadtraum anschließen möchte. Das Kollektiv »Invisible Playground« entwirft Spiele im öffentlichen Raum, konzipierte etwa 2012 das Monster-Stadtspiel »Ruhrzilla«.
In Oberhausen geht es an diesem Abend nicht nur durch die Straßen; die Indie-Schnitzeljagd führt auch in private Wohnungen, die im Spiel zu »Safe Zones« werden. »Thematisch geht es darum, die Grundpfeiler der Demokratie zu retten«, sagt Holger Bergmann, der künstlerische Leiter des Ringlokschuppen Ruhr. »Das ist kein hippes Phänomen, sondern eine große Tragödie. Oder wenn, dann wäre es eine Hippness des Unterganges.« Stadtspiele und Erweiterungen des Theaterraumes in den Stadtraum hinein sind eine Spezialität des Ringlokschuppens – die »54. Stadt« wird eine Koproduktion mit Urbane Künste Ruhr und dem Theater Oberhausen sein. Dort findet auch der letzte Teil der Theatertour statt – an diesem Ort treffen sich die beiden Fußgruppen zum finalen Showdown unter der »Donnerkuppel« wieder, den das Kollektiv »copy & waste« gestaltet. Dahinter verbergen sich Jörg Albrecht und der Regisseur und Schauspieler Steffen Klewar, von dem auch die Idee zu »Anarchie in Ruhrstadt« stammt. »In der Donnerkuppel findet eine Art Überlebensshow statt, eine Überspitzung heutiger Fernsehformate wie Dschungelcamp, Topmodel etc. In diesem Spiel, das drei Transen moderieren, kämpfen Julieta und Rick darum, endlich die Ruhrstadt zusammen verlassen zu können«, sagt Albrecht.
So könnte man sich 2044 über eine düstere, konspirative Tankstelle – Winkelmann! – in Castro-Rochelle, dem früheren Castrop-Rauxel, sich in die Südsee schleusen lassen. Der gläserne Elefant in Hamm liegt in Scherben und eine anarchistische Brigade möchte alle unnützen Gebäude wegsprengen, die ihrer Utopie, der Landwirtschaft, im Wege sind. Auch das Dortmunder U ist auf der Liste, wird aber gestrichen – da wohnen jetzt Familien drin.
Jörg Albrecht: »Anarchie in Ruhrstadt«, Wallstein-Verlag, Göttingen, 2014, Roman, 240 Seiten, 19,90 Euro.
Lesung am 5. September 2014 im Museum Folkwang, Essen (»Literatur im Folkwang« / Buchhandlung Proust)
»54. Stadt – Das Ende der Zukunft«, Theatertour mit »kainkollektiv«, »Ligna«, »Invisible Playground«, »copy & waste« 12., 13. 14. September 2014, Ringlokschuppen Ruhr & Theater Oberhausen. www.ringlokschuppen.de + www.theater-oberhausen.de