Es war in den 1970er Jahren, in der Zeit des RAF-Terrors. Das Leben von Kurt Peters prägten unangenehme Kontakte mit dem staatlichen Überwachungsapparat. Denn den Nachbarn waren die Vorgänge in seinen Räumen höchst suspekt: Der Tänzer, Pädagoge, Kritiker und Verleger hatte für seine private Tanz-Sammlung eine Wohnung am Brüsseler Platz in Köln gemietet, wo junge Tanzbegeisterte aus aller Welt aus- und eingingen. Es hingen keine Gardinen vor den Fenstern, die Scheiben waren ungeputzt. Bei der Polizei ging eine Anzeige ein. Kurz darauf ein Einbruch: Vier Alben mit Tanz-Briefmarken wurden gestohlen. Ein herber Verlust. Dennoch wurde die Sammlung von Peters und seiner Frau Gisela Peters-Rohse, über Jahrzehnte ohne finanzielle Hilfe aufgebaut, zur Keimzelle des Deutschen Tanzarchivs Köln. Jetzt soll das tanzhistorische Lebenswerk nicht nur ins digitale Zeitalter überführt, sondern zu einem Forschungs- und Kompetenzzentrum Tanz von internationaler Bedeutung erweitert werden.
Heute beherbergt das Kölner Tanzarchiv mehr als 500 Nachlässe und Sammlungen von Tänzern, Choreografen, Pädagogen und Ballettkritikern, darunter Mary Wigman, Harald Kreutzberg und Dore Hoyer. Rund 160.000 Bilder und 117.000 Originalnegative umfasst es, dazu gesellen sich eine Kunst-, eine Kostüm- sowie eine Filmsammlung. Kurz: Das Institut im Kölner Mediapark, seine Magazine und Depots, platzen aus allen Nähten. Zudem sieht man sich den Herausforderungen der Zukunft und den Bedürfnissen der Nutzer*innen aus Lehre und Forschung nicht gewachsen – die Digitalisierungsrate liegt nur bei knapp zwei Prozent. Immerhin wurde kürzlich eine Stelle in diesem Bereich eingerichtet.
Die historischen wie zeitgenössischen Formen der Tanzkunst – man denke nur an die in der Pandemie rasant entwickelten digitalen Formate wie Apps oder Produktionen für Filme – müssen aufbereitet und bewahrt werden. Deshalb hat das Deutsche Tanzarchiv in einer gemeinsamen Initiative mit dem NRW-Ministerium für Kultur und Wissenschaft, dem Kölner Kulturamt und der SK Stiftung Kultur – letztere kauften 1986 die Peters-Sammlung an – einen »Transformationsprozess« eingeleitet. Ein Expertengremium begleitet den Ausbau. In den drei Arbeitsgruppen »Archiv«, »Ausbildung« und »Wissenschaft« formulieren die Fachleute, unter Einbeziehung Studierender, Bedarfsprofile für Zukunftsmodelle, überprüfen sie auf ihre Realisierbarkeit hin und definieren Zeiträume. Das Forschungs- und Kompetenzzentrum soll eine zentrale Schnittstelle für die Vernetzung zwischen den Archiven und Hochschulen im Bereich Tanz in NRW und weit darüber hinaus werden.
Beratung im Vordergrund
Thomas Thorausch, stellvertretender Archivleiter, wagt einen hoffnungsvollen Blick in die Zukunft: »Ich kann mir vorstellen, dass eine Studierende zu jeder Tages- und Nachtzeit das Archiv online besuchen kann. Und dabei nicht nur einen Einblick in die Kataloge nimmt, sondern dank klug aufbereiteter digitalisierter Quellen in den Beständen stöbert. Die Verzeichnisse erlauben, dass sich ihr von einer Archivalie aus ein Netz von Referenzen erschließt, das weit über eine Institution hinausgeht.« Thorausch überlegt weiter: »Ich kann mir auch vorstellen, dass die Studentin via Katalog für den nächsten Tag Archivalien ordert – im Original oder in einem virtuellen Lesesaal.« Denkbar seien auch die Möglichkeiten, sich in Austauschforen weiter zu informieren und zu vernetzen, Fragen via Chat zu stellen und sich für eine Beratungssession mit einer Mitarbeiterin oder einem Mitarbeiter anzumelden. Denn die Beratung von Künstler*innen und Student*innen soll künftig im Vordergrund stehen. Den Titel »Kompetenzzentrum« wählten die Zukunftsarchitekt*innen des Archivs sehr bewusst.
Allerdings bedarf es zu dieser Vision nicht nur modernster Technik, sondern auch eines entsprechenden rechtlichen Rahmens. Die urheberrechtlichen Hürden sind beim Ausleihen insbesondere von Film- und Fotomaterial hoch, was in besonderem Maße die Geschichte des modernen Tanzes betrifft. Thomas Thorausch: »Ich höre oft den berechtigten Vorwurf, wir würden ja nichts herausgeben, man komme nicht an Archivmaterial heran. Wir halten uns aber nur an Recht und Gesetz. Gerade für die Zwecke von Lehre und Forschung müssen die rechtlichen Rahmenbedingungen verändert werden.« Hier ist die Politik gefordert.
In einem Jahr soll das Expertengremium ein Pop-Up-Archiv vorstellen, das das Zukunftsmodell virtuell visualisiert. An welchem Ort das Deutsche Tanzarchiv Köln künftig physisch anzutreffen sein wird, ist noch ebenso unklar wie die Kosten des ambitionierten Projektes. Derzeit ist eine Erweiterung am Standort im Mediapark genauso denkbar wie ein Umzug. Natürlich träumen die Hausherren Frank-Manuel Peters und Thomas Thorausch von einem eigenen schicken Gebäude. Angesichts der finanziellen Situation wird das aber wohl ein Wunschtraum bleiben. In der Wohnung am Brüsseler Platz wird das Archiv der Zukunft sicher nicht zu finden sein. Auch wenn auf dem Klingelschild »Peters – Tanzarchiv« steht – seit bald 50 Jahren.