Ein zerknautschtes Frotteelaken im Rahmen gebannt an der Wand. Die durchlöcherte Edelstahlplatte daneben wirkt wie ein Fenster in die »Nacht«. Dazu sieht man teerschwarze »Schatten« an den gewölbten Mauern vorüberziehen und fühlt sich womöglich angestarrt von einer großen, dunklen Maske und ihren eckigen Fensteraugen aus Sicherheitsglas. Es sind vertraute Dinge, mit denen Erinna König fremde Geschichten erzählt – aktuell in der Skulpturenhalle in Neuss.
Königs letzte größere Einzelausstellung liegt eine ganze Weile zurück. Doch waren immer wieder einige ihrer Arbeiten in Gruppenausstellungen zu sehen – und haben stets Lust auf mehr geweckt. Wie schön, dass sich jetzt an diesem besonderen Ort Gelegenheit bietet für eine Neu- oder Wiederentdeckung der 72-Jährigen. Rund 40 Werke aus fünf Jahrzehnten kommen da zusammen. Die älteren wirken erstaunlich frisch, die vielen Neuproduktionen sind nicht weniger interessant. Wer steckt hinter diesem großen Auftritt? Und warum hat man in letzter Zeit nicht viel mehr gesehen und gehört von Erinna König? Mit solchen Fragen im Kopf geht es nach Düsseldorf-Unterbilk, wo die Künstlerin lebt und zur Arbeit im Atelier nur ein paar Schritte über den Hof gehen muss.
Allerhand Kisten stehen da, aus denen König Stücke für die Ausstellung geholt hat. Andere Werke, die nicht nach Neuss gereist sind, hängen, liegen, lagern hier und da herum. Mitten drin auf dem Fußboden breitet sich ein Gemisch aus Schnörkeln, Arabesken und altdeutscher Schrift aus, an dem die Künstlerin gerade arbeitet. Im vergleichsweise aufgeräumten Nebenraum nimmt man Platz am langen Tisch – ein großes Bücherregal im Rücken und vor Augen ein eigenartiges Ensemble diverser Kleinteile, die König weit oben an die Wand gepinnt hat. Ein alter Rahmen ist dabei, das Spankörbchen daneben war einmal mit Aprikosen gefüllt, und die demolierte Vinyl-Single spielte einst Janis Joplins »Half Moon«. Warum sie die angeschmolzene Schallplatte interessiere, müsse sie noch herausfinden.
Was das Sammelsurium da oben soll, weiß König aber jetzt schon ganz genau. Denn es gehört zu ihrer Praxis, Dinge auf sich wirken zu lassen. Das Materialager im Keller sei reich bestückt – oft habe sie auf die Bremse treten müssen, wenn sie an einem Sperrmüllhaufen vorbeigefahren sei. Und immer wieder hole sie einzelne der Zufallsfunde ins Atelier, stelle sie hin oder hänge sie auf, um tagtäglich mit dem Anblick konfrontiert zu sein. Gerne wäre man einmal mit der Künstlerin hinabgestiegen, um den Fundus zu besichtigen. Doch König winkt ab. Lieber zieht sie einen Ordner aus dem Regal und beginnt durch die sorgsam dokumentierten Werke zu blättern.
Schnell wird klar, wie intensiv König vom Gegenstand her denkt. Er muss sie treffen, »elektrisieren« – so sehr, dass sie ihn weiterdenken will. Dabei baut die Künstlerin gern auf Assoziationen oder Geschichten, die dem gebrauchten Ding innewohnen. Dem rosafarbenen Frottee-Laken, einem alten Kinderstuhl, der Schweißermaske, dem Palästinensertuch…
Schon zu Beginn des Studiums an der Düsseldorfer Akademie, Ende der 1960er Jahre, findet König diesen speziellen Zugang zur Welt der Dinge. Auch ihre Professoren waren damals dem Alltagsmaterial nicht abgeneigt. Dieter Roth schuf aus Schokolade und Salami etwa, aus Vogelfutter oder Kaninchen-Kötteln Bilder, Skulpturen, Objekte, deren Verwandlung durch Verderblichkeit gleich mitgedacht war. Jospeh Beuys dagegen hob mit Werkstoffen wie Fett, Filz, Honig in mythisch-biografische Sphären ab. Königs oft intuitiv-ironischer Zugriff auf die Gegenstände scheint weniger den Lehrern und eher den anarchischen Ideen eines Marcel Duchamp oder der Dada-Kollegen verwandt.
»Ich habe sehr früh einige Arbeiten realisiert, von denen man heute vielleicht sagt, dass sie ungewöhnlich waren und dabei auf bestimmte Weise dem Zeitgeist entsprachen.« Das überrascht. Eine Studentin, die so zielsicher wirkt – in eine Phase, wo andere suchen, sich orientieren, verschiedenes ausprobieren. »Bei mir kam die Suche später«, bemerkt König dazu. Und sie gestaltete sich offenbar umso intensiver. »Eigentlich habe ich die ganzen 70er Jahre hindurch mit den unterschiedlichsten Medien und Materialien experimentiert, es war wirklich quälend.« Im Geiste von Beuys und seiner Klasse bemühte sich die Künstlerin händeringend, Kunst und Politik in eins zu bringen.
»Natürlich sind wir gegen den Vietnamkrieg auf die Straße gegangen, natürlich ging es gegen den Imperialismus in Afrika, natürlich trieb viele von uns die Frauenfrage um.« Ihr Versuch jedoch, Aktivismus und Ästhetik zu verbünden, scheiterte vorerst. Die Schau in Neuss überspringt das »quälende« Jahrzehnt, setzt erst danach wieder ein und zeigt Arbeiten, in denen politische Motivationen nur hier und da aufblitzen. Beim »Machtpeter« von 1991 etwa: Eine Konstruktion aus zwei Kinostuhllehnen, die durch zwei Fenster aus Sicherheitsglas zur bedrohlichen Schutzmaske umgedeutet scheinen.
Es sind eher poetische Arbeiten. Unbestimmt aufgeladene Alltäglichkeiten, die König in den 80er Jahren einigen Zuspruch auf dem Markt und einen festen Platz im Programm der renommierten Galerie Erhard Klein einbrachten. Allerdings war der kommerzielle Erfolg nicht so durchschlagend und nachhaltig, dass ihr die Kunst immer zum Lebensunterhalt gereicht hätte. Zu den Nebentätigkeiten, die ihre Künstlerkarriere begleitet haben, gehört eine als Gesellschafterin der »op de Eck« GmbH – die Museums-Gastronomie der Kunstsammlung NRW am Grabbeplatz. Lieber noch denkt die Künstlerin zurück an die Vertretungs-Professur an der Universität Kassel.
Königs Hauptsache blieb aber immer die Kunst. Vor kurzem erst hat sie damit begonnen, ihr Werk zu sichten. Im eigenen Lager und in fremden Sammlungen werden die Stücke gesucht und dokumentiert. Die Ausstellung nun bietet ihr Gelegenheit, eine Brücke zu schlagen von den Anfängen bis ins Jetzt. Die allermeisten Stücke der Schau stammen aus jüngster Zeit – unterstützt durch die Thomas Schütte Stiftung und die Kunststiftung NRW, konnte König viel Neues produzieren. So auch den zwiespältigen Blick in die »Nacht«. Wie ein Fenster wirkt jene von weißem Vorhangstoff umfangene Edelstahlplatte, die König mit großer Mühe und erheblichem technischen Aufwand mit Löchern übersät hat. Zeichnet sich da der Sternenhimmel ab? Sind Revolverkugeln eingeschlagen? Eine eindeutige Geschichte wird man wieder nicht finden, auch kein Rätsel, das Erinna König an diesem Vormittag auflösen will oder kann.
SKULPTURENHALLE NEUSS: ERINNA KÖNIG, BIS 16. AUGUST 2020, TEL.: 02182 / 8298520