Das Favoriten-Festival in Dortmund sucht nach neuen Ideen und Denkansätzen.
Ein antiker Mythos: Iphigenie wird den Göttern geopfert, von ihrem Vater, der dafür günstige Winde für die griechische Kriegsflotte einhandeln will. Sie ist damit einverstanden, das Schicksal ihres Landes ist für Iphigenie wichtiger als ihr eigenes Leben. Okay, sie wird dann doch gerettet, aber darauf kommt es diesmal nicht an. Ungefähr 20 Jugendliche stehen auf der Bühne und überlegen, was sie an Iphigenies Stelle tun würden. Und ob so ein Opfer überhaupt heroisch ist. »Daughters of the Future« vom Kollektiv waltraud900 ist eins der ausgewählten Stücke für das Favoriten-Festival in Dortmund.
»(Un)Learning for possible futures« – das Motto des letzten Festivals ist geblieben. Zum zweiten Mal leiten Anne Mahlow, Sina-Marie Schneller und Margo Zalite das Treffen, in dem herausragende Produktionen der freien Szene in NRW auf internationale Arbeiten treffen. Wobei der Begriff »Unlearning« – Verlernen – nicht bedeutet, dass alles bisher Erreichte nicht mehr zählt. »Wir drücken nicht auf die Löschtaste«, sagt Anne Mahlow, »sondern wir setzen uns damit auseinander, was wir eigentlich lernen und zu welchem Zweck. Welche Macht steckt dahinter? Warum lernen wir so wenig in der Schule über Klimawandel oder Geschlechtergerechtigkeit?«
Gesellschaftskritischer Gestus
Es geht in allen Bühnenprogrammen, Installationen, Workshops und Diskussionen darum, neue Ideen und Perspektiven zu entwickeln. Nicht um Geschichtsvergessenheit, sondern, so Anne Mahlow, um »eine Auseinandersetzung mit der Gegenwart und dem, was ist, aber auch mit dem, was sein kann«. Ein gutes Beispiel dafür ist die viel gerühmte Aufführung »Dunkeldorf – ein Stadtspiel« des Kollektivs Pièrre.Vers aus Düsseldorf. Da geht es um die Ermittlungen nach dem Bombenanschlag vom Juli 2000 am Düsseldorfer S-Bahnhof Werhahn. Ein ungeborenes Kind ist gestorben, zehn Menschen wurden zum Teil schwer verletzt, alle waren Aussiedler*innen. Das Stück stellt Fragen nach Schuld und Verantwortung, nach Gerechtigkeit und Erinnerung.
Ein politischer, gesellschaftskritischer Gestus durchzieht das gesamte Programm. In einem Vereinsheim konfrontiert Maddy Forst das Publikum mit nicht-weißer Lebensrealität. Der programmatische Titel lautet »In meiner Haut – ein semi-interaktives Theaterstück, welches es auszuhalten gilt«. Und in der Performance »Sanctuary of Love« erproben die ghanaische Transfrau Va-Bene Elikem Fiatsi (alias crazinisT artisT) und Maria Renee Morales Garcia aus Guatemala Strategien und Praxis des Mitgefühls.
»Sanctuary of Love« gehört zum Internationalen Residenzprogramm (Un)Learning Distances, das ebenso Teil des Favoriten-Festivals ist wie die »Ost-West/West-Ost Werkstatt«. Ein Programmpunkt, der in zeitlicher Nähe zu den Landtagswahlen in drei ostdeutschen Bundesländern besonders interessant werden könnte. »Der Ost-West-Austausch«, sagt Festival-Koleiterin Anne Mahlow, »ist besonders im Westen weniger häufig anzutreffen und findet auch nicht immer auf Augenhöhe statt. Mir fehlt da häufig eine offene Zugewandtheit. Sich für Demokratie einzusetzen, ist eine bundesweite Aufgabe, nicht nur eine Frage des Ostens. Deswegen ist es uns ein großes Anliegen, mit einem vielseitigen Kunst- und Diskursprogramm beim Favoriten-Festival in Dortmund Räume für diesen bundesweiten Austausch zur Stärkung der Demokratie zu schaffen.«
Allerdings fällt das Programm bei aller Vielfalt etwas dünner aus als bei der letzten Ausgabe des Festivals vor zwei Jahren. Damals gab es 30 künstlerische Arbeiten aus NRW und dem bundesweiten Kontext sowie zusätzlich fünf Residenzen zu sehen, diesmal sind es insgesamt nur 20 verschiedene Aufführungen. Besonders der Showcase NRW musste Abstriche hinnehmen, deutlich weniger Gruppen und Kollektive aus dem Land können ihre Stücke in Dortmund zeigen. Anne Mahlow wird da sehr deutlich: »In diesen finanziellen Ausgangsbedingungen ist es herausfordernd, dem Auftrag des Festivals gerecht zu werden, die freie Szene in ihrer Vielfalt zu präsentieren.«
Zu wenig Geld für NRW
Einfach Geld vom internationalen Programm in den Showcase NRW verschieben kann sie allerdings nicht. Denn die Mittel sind durch Förderprogramme festgelegt. Das Goethe-Institut aber auch die Kunststiftung NRW beteiligen sich zielgerichtet nur am internationalen Austausch. Vor allem die Kunststiftung des Landes, die früher das Festival allgemein gefördert hat, gibt nur noch Geld für genau definierte Programme. »Viele Festivals in NRW stehen durch diesen Kurswechsel vor harten Herausforderungen«, sagt Anne Mahlow.
Zumal die freien Theater vor weiteren Herausforderungen stehen. Zwar sind die Honoraruntergrenzen für die Beteiligten angehoben worden und werden langsam in den Förderprogrammen verankert. Es gibt also bald kein Geld mehr für Produktionen, bei denen keine Gagen bezahlt werden, von denen die Künstler*innen leben können. Das soll die über viele Jahre hinweg praktizierte Selbstausbeutung eingrenzen. Doch die Etats steigen nicht, so dass wahrscheinlich bald weniger produziert wird. Im Gegenteil hat die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien sogar heftige Kürzungen angekündigt und zum Beispiel die Unterstützung des Bündnisses der internationalen Produktionshäuser komplett gestrichen. Dazu gehören das Forum Freies Theater und tanzhaus nrw in Düsseldorf sowie Pact Zollverein in Essen. »Ich kenne einige Gruppen,« sagt Mahlow, »die aufhören und keine Kunst mehr machen. Das ist für die Vielfalt der Kunstszene fatal. Außerdem leisten sie mit ihrer Kunst und ihrem Engagement politische Arbeit und einen wichtigen Beitrag für eine offene und vielfältige Gesellschaft.«
In dieser Situation hat das Leitungsteam des Favoriten-Festivals einen Liebesbrief an die freie Szene NRW geschrieben und auf der Webseite veröffentlicht. »Ich bin schwer verliebt in die freie Theaterszene NRWs«, erläutert Mahlow. »Die Szene ist sehr breit aufgestellt mit einer Menge Schattierungen und einer großen inhaltlichen, aber auch formalen Vielfalt.« In den verschiedenen Programmlinien wird versucht, Künstler*innen aus NRW auch außerhalb des NRW Showcases ins Festival zu integrieren, wie in den Podcast-Formaten, damit ihre Stimmen hörbar bleiben. Obwohl sich in vielen Fällen Existenzkämpfe ankündigen, geht die künstlerische Leitung optimistisch in das Favoriten- Festival: »Auch wenn die Zeit nicht leicht ist, bleibt die Auseinandersetzung sehr relevant. Es ist anstrengend, aber nicht hoffnungslos.«
5. bis 15. September
an vielen Spielorten in Dortmund