REZENSION ANDREAS WILINK
Der Inhalt des Päckchens, das Mathieu sein ihm unbekannter leiblicher Vater hinterlassen haben soll, enthält ein kleines kostbares Gemälde: das stille Porträt eines Jungen mit eindringlichem Blick. Eine zur Kunst gewordene Verlustanzeige. Mathieu (Pierre Deladonchamps), schon 33 Jahre alt, selbst Vater eines Sohnes und in Paris lebend, hat von seiner Mutter immer nur erzählt bekommen, er sei Frucht einer nicht bedeutsamen Affäre. Als ihn der überraschende Anruf mit der Todesnachricht aus Kanada erreicht, beschließt er dorthin zu reisen, um Näheres zu erfahren und seine zwei Halbbrüder kennenzulernen.
Pierre, enger Freund des verstorbenen Jean und ebenfalls Arzt, holt Mathieu in Montreal ab und macht ihn mit seiner Familie bekannt, will aber gleichzeitig partout verhindern, dass sich Mathieu seinen neuen Verwandten offenbart. Er stellt ihn als Sohn eines Bekannten vor, als die vier Männer einen See nach der Leiche des dort vermutlich ertrunkenen Jean absuchen und zwischen den zwei ungleichen Brüdern schwelende Konflikte ausbrechen. Mathieu hat gar keine Lust mehr, sich ihnen gegenüber zu ‚outen’ und muss dann auch erkennen, dass Jean nicht die Person und nicht der Charakter gewesen ist, für den er ihn einen kurzen Augenblick lang hätte halten können.
Stattdessen findet er in Pierre und dessen Familie unerwartete Nähe und neue Vertrautheit. Es ist nicht die Konstruktion der Geschichte und ihre recht bald durchschaubare Auflösung, die »Die kanadische Reise« von Philippe Lioret sehenswert machen. Sondern wie sich ohne großen äußeren Aufwand an Emotion, vielmehr subtil und nuanciert ein Beziehungsgefüge herstellt und ausbalanciert, wie Unterlassungen nahezu schamhaft zu Tage treten und wie Beschädigungen, ohne dass sie deutlich bei Namen genannt werden müssten, sichtbar und, ja – heilbar werden.
»Die kanadische Reise«; Regie: Philippe Lioret; F 2016; 98 Min.; seit 14. Dezember 2017.