Ein zweiter Heinrich Schliemann ist er – und auch wieder nicht, der Unterwasser-Forscher Franck Goddio. Zwar ist auch der 1947 in Casablanca zur Welt gekommene Franzose ein Autodidakt der Archäologie. Zwar hat er trotzdem oder gerade deshalb versunkene Städte entdeckt. Doch nicht auf der Grundlage von Vorzeitmythen und nicht mit dem selbstzerstörerischen Sendungsbewusstsein des preußischen Troja-Ausgräbers. Als Goddio, ein studierter Statistik-Mathematiker, Anfang der 1980er Jahre seine Finanzberaterkarriere abbrach, um nur noch seiner vom Großvater, einem Südseeforscher, ererbten Leidenschaft für das Meer nachzugehen, war die kritische Würdigung historischer Berichte und tradierter Mythen längst Bestandteil moderner Archäologie. Und waren naturwissenschaftliche Verfahren entwickelt, um unterm Schutt der Jahrhunderte Versunkenes verlässlich zu orten. Es lag also nichts Spekulatives in Goddios Idee, künftig professionelle archäologische Unterwasserforschung zu betreiben. 1985 gründete er das private, jedoch wissenschaftlichen Kriterien verpflichtete, interdisziplinäre »Institut Européen d’Archéologie Sous-Marine« (IEASM), und schon bald gelangen dem Aussteiger und submarinen Absteiger spektakuläre Funde vor allem von Schiffswracks – sein erstes war eine vor den Philippinen in 57 Metern Tiefe liegende Dschunke aus dem 16. Jahrhundert.
Womit wir fast schon in Bonn sind. Denn da das IEASM sich durch seine revolutionäre Methodik bei sauberer Forschung, seine geschickte Öffentlichkeitsarbeit sowie gute Kooperation mit nationalen Behörden und renommierten Forschungsinstituten schnell einen Namen gemacht hatte, wurde es Mitte der 1990er von ägyptischen Behörden damit beauftragt, die Küste vor Alexandria zu untersuchen: Hier vermutete man den antiken Hafen der Stadt und die Königspaläste versunken im Meer. Goddios Institut, durch die liechtensteinische Hilti-Stiftung mit ausreichend Bordmitteln (etwa für einen Kernspinresonanz- Magnetometer zum Abtasten des Meeresgrundes) versorgt, fand das Gesuchte. Und dieser Erfolg wiederholte sich 2000, als die IEASM-Taucher wenig weiter östlich, in der Bucht von Abukir, die Hafenstädte Kanopus und Heraklion orten und damit dessen bis dahin nur aus antiken Schriften bekannte Existenz beweisen konnten: Goddios Troja sozusagen.
Orten aber hieß nicht nur kartografieren, orten hieß auch bergen. Gefäße, Schmuck, Statuen, Säulen und andere architektonische Teile kamen, bis zu zweihalbtausend Jahre alt, doch wunderbar erhalten, aus den Tiefen von Wasser und Vergangenheit ans Licht und ins Heute. Und schließlich nach Bonn. Wo – nach Berlin und Paris – »Ägyptens versunkene Schätze« jetzt in der Bundeskunsthalle zu bestaunen sind: zirka 500 faszinierend schöne Artefakte aus der Zeit von 700 v. Chr. bis 800 n. Chr. Und von teils kolossalem Ausmaß.
Von eher natürlicher Größe ist die Büste des Nil, ein steinerner Kopf mit menschlichem Antlitz im späthellenistischen Stil, der den Besucher zu Beginn der Schau empfängt. Er schwebt in einer der kleinen Apsiden des Museums (deren Hauben als spitze Türmchen außen aus dem Bau ragen), über ihm sorgt eine Lichtinstallation in blau-grüner Farbigkeit, unterstützt durch Blubberakustik, für Unterwasseratmosphäre. Eine ein bisschen kitschige, aber auch passende Einstimmung auf eine Ausstellung, die ihre Objekte weniger kühl zeigt als vielmehr emotional inszeniert. Säulen, Statuen und Stelen, Altarschreine, Sphingen, Herrscher- und Götterfiguren, Geschirr, Schmuck und Münzen sind nicht nur perfekt ausgeleuchtet und textlich gut versorgt, sie sind auch durchgängig von Großfotos, Leuchtdias und Video-Screens begleitet. Stimmungsbilder, die die Lage der Fundstücke in situ sub marem zeigen, den Moment ihrer Entdeckung durch Taucher im blautrüben Wasser des Mittelmeeres dokumentieren oder den Augenblick des Auftauchens aus den Wellen am Seil des Schiffskrans festhalten.
Was waren Alexandria, Kanopus und Heraklion? Die drei Städte bilden die Abteilungen der Ausstellung im Ober- und im großen Saal des Erdgeschosses; nach und nach erhellt sich dem Besucher ihre Geschichte. 331 v. Chr. wurde Alexandria an der Nordküste Ägyptens von Alexander d. Gr. gegründet, entwickelte sich zum wichtigsten Zentrum hellenistischer Kultur außerhalb Griechenlands, wurde Hauptstadt des Ptolemäer-Reichs. (Dessen Begründer Ptolemaios fungierte als Statthalter des makedonischen Eroberers in Ägypten.) Alexandria war eine Reißbrettgründung, schachbrettartig angelegt – eine Stadt ganz nach griechischem Muster, mit vielen Plätzen, großen Tempeln, einem riesigen Gymnasion mit 200 Meter langen Säulenhallen und umgeben von einer 15 Kilometer langen Stadtmauer. Vor allem das Palastviertel Brucheion, das (nach dem Bericht des antiken Historikers Strabon) ein Drittel des Stadtgebietes einnahm, wurde von Goddio lokalisiert und vermessen – wie der legendäre Hafen mit seinem 135 Meter hohen Weltwunder-Leuchtturm war es im Laufe vieler Jahrhunderte allmählich acht Meter tiefer und damit ins Meer gesunken. Erdbeben sowie ein Tsunami im Jahre 365 gaben dem, was übrig war, den Rest. Die legendäre Bibliothek von Alexandria, die einmal mit ihren vermutlich 700.000 Papyri das Wissen der antiken Welt verkörperte, ging allerdings wohl schon im Jahre 48 v. Chr. bei Kämpfen zwischen Caesar und Widersachern der von ihm unterstützten Kleopatra in Flammen auf. Was den Brand überlebte, wurde vernichtet, als 391 der (christliche) Patriarch Theophilus befahl, alle heidnischen Tempel Alexandrias zu zerstören, darunter eben auch das Sarapis- Heiligtum mit der Bibliothek.
Sarapis war ein spätägyptisch-hellenistischer Mischgott aus Apis- Osiris und Dionysos – in Alexandria herrschten viele Götter nebeneinander. Das Sarapeion von Alexandria galt als einer der größten Sakralbauten der hellenistischen Welt; daneben erhoben sich Tempel für die zu Göttern erhobenen ptolemäischen Herrscher wie Arsinoë II., standen Tempel für ägyptische, Tempel für römische Gottheiten. Bis frühchristlicher Fundamentalismus der Vielfalt ein Ende machte, trat mit jedem neuen Einwanderer- oder Eroberervolk eine neue Religion zu der alten oder verschmolz mit ihr. (So wurde Herakles, der Namensgeber für Heraklion, hier als Chon, Sohn des Ägyptergottes Amun-Gereb, begriffen.) Griechische wie römische Herrscher trugen zu den eigenen ganz selbstverständlich Pharaonennamen; die Römer, für die Octavian (der spätere Kaiser Augustus) Alexandria im Jahr 30 v. Chr. eroberte, romanisierten die Stadt und das sie umgebende Land nicht – sie waren fasziniert von Ägypten.
Fasziniert von der Bonner Ausstellung ist man nicht zuletzt, weil sie all diese Geschichten erzählt. Oder animiert, sie nachzulesen. Denn die Ausstellungsstücke raunen ja nur; wenn auch vernehmlich. Etwa jenes Fragment eines mächtigen falkenköpfigen Sphinx aus dem 4. Jahrhundert v. Chr., der nach jahrhundertelangem Schlaf im Schlick nun den Schnabel in die Bonner Museumsluft stößt. Wo ihm der ein Jahrhundert jüngere, schwarze Granitleib der Königin Arsinoë II. in vom Gazegewand kaum verhüllter, graziler Nacktheit und damit in wunderbarer stilistischer Mischung aus ägyptischer und griechischer Kunsttradition gegenübersteht. Wo das kolossale Steinporträt eines der letzten Könige des Nillandes, schon nach der Zeitenwende, den Blick des Falkensphinx aus milden Augen pariert. Sphingen gibt es übrigens reichlich zu sehen, meist sind sie hundsgroß, einige haben einen Menschenkopf, einige keinen mehr; einer zeigt vermutlich das Gesicht Ptolomaios XII., des Vaters der Kleopatra. Von der Vielverehrten selbst allerdings fand der Angler des verlorenen Schatzes, Goddio, unter Wasser keine Spur.
Im ägyptischen Kult waren den Göttern Tiere zugeordnet, dem Thot der Ibis, der Bastet die Katze, dem Sobek das Krokodil. Das erzählt stumm von sich aus. Äußerst beredt, wenn auch in geheimnisvoll fremder Schrift, zeigt sich hingegen ein kleiner Schrein aus schwarzem Granit, ein sogenannter Naos, eines der kostbarsten Ausstellungsstücke. Teile dieses knapp zwei Meter hohen Tabernakels für den Luftgott Schu aus dem 4. vorchristlichen Jahrhundert waren schon im 18. Jahrhundert entdeckt worden und sind seitdem im Louvre ausgestellt; die Funde, die Goddio auf dem Gebiet der versunkenen Stadt Kanopus, zwei Kilometer vor der jetzigen Küstenlinie, gelungen sind, können den Naos nun komplettieren. Sodass das feine Muster der Hieroglyphen, mit denen seine Außenseiten über und über beritzt ist, sich als vollständiger – frühesterhaltener – astrologisch-astronomischer Kalender zeigt; samt einer kurzen Geschichte der Entstehung der Welt.
Die Ausstellung hat ans Licht geholt; der Besucher ist bald versunken in Geschichte und Mythos. Wieder herausgerissen aus Betrachtungstiefen wird er durch den Abstieg über die wackelnde Behelfstreppe hinunter ins Erdgeschoss, wo ihn allerdings der Höhepunkt der Ausstellung erwartet, zumindest in quantitativer Hinsicht: Vor einem stilisierten Tempeltor ragen drei gewaltige Statuen in die Höhe, jede an die sechs Meter hoch und sechs Tonnen schwer. Es sind ein Pharao und seine Königin aus der Ptolemäer-Zeit des 4. vorchristlichen Jahrhunderts, flankiert von einem Standbild des Gottes Hapi; alle drei gehauen aus rotem Granit. Zwar hat das Schicksal sie zerbrochen, nach der Rekonstruktion aber fehlt kaum in Teil. Die Frauenfigur zeigt nach Göttinnenart ihren Kopfschmuck aus Kuhgehörn und Sonnenscheibe, der Gott (Personifikation der Nilüberschwemmung) eine Opferplatte auf den vorgestreckten Händen. Die Kolosse bewachten wohl den großen Tempel von Heraklion, der Amun geweiht war. Der Fund einer Stele aus schwarzem Granit aus der Zeit des Pharaos Nektanebos I. machte darüber hinaus langwährenden Spekulationen, ob Heraklion und die in antiken Schriften erwähnte Stadt Thonis dasselbe seien, ein Ende: Thonis nannten die Ägypter, was für die Griechen Heraklion hieß. Dessen Überreste liegen mittlerweile sieben Kilometer weit draußen im Meer, erst zwei Prozent seiner Schätze, sagt Franck Goddio, sind geborgen.
Es ist also darauf zu hoffen, dass in den nächsten Jahren weitere Teile der versunkenen Städte an der Nilmündung heraufkommen werden, vielleicht auch das Mausoleum Alexanders, der die nach ihm benannte Stadt zwar nie gesehen hat, doch in ihr bestattet liegt. Und dass auch diese Kostbarkeiten irgendwann zu bewundern sein werden – in Bonn.
Bis 27. Januar 2008. Katalog 464 S., Prestel-Verlag, 29 €. Tel.: 0228/9171-0 und 0800/175 2750 (ticket-otline). www.bundeskunsthalle.de