// Frau in Schwarzweiß. So steht sie mir vor Augen. Hart fotografiert, Konturen in Auflösung, sich abzeichnende Schattenlinien. Ein Gesicht, hervortretend aus dem Dunkel, wie in einem Existentialistenkeller damals auf der Pariser rive gauche, einem Nachkriegsfilm oder einer Kneipe tief im Westen, wo die Sonne versinkt.
Dann aber sitzt Barbara Nüsse einem bei 30 Grad in Köln, soeben von einer »Lear«-Probe kommend, im leichten hellen Kleid gegenüber, mädchenhaft jung, schmal, klaräugig und wie aus einer Sommerkomödie; den Rucksack hatte sie geschultert, als würde sie auf Klassenfahrt gehen und nicht unterwegs sein zu einer Reise ins sagenhafte Britannien. Man denkt: Alles ganz anders. Das Werk der Figur ist das eine; diejenige, die diese Figuren gestaltet, die sich erschafft als Figur, etwas anderes. Muss man halt zusammenkriegen: der Künstler selbst – das ist die Kunst, und ebenso der Betrachter – das ist das bleibende Rätsel beim Theater. Wie der Spielraum sich entfaltet, wie die Schaltstelle zwischen Entfesselung und Beschränkung, Phantasie, Disziplin und Systematik, zwischen Hingabe und Distanzierung funktioniert.
»Ich bin zunächst ein privater Körper, muss erst einmal die Figur finden und sie dann noch in dem besonderen Raum ansiedeln. Beim Text fragt man sich: Wo sitzt das, wo kommt der Satz her?«, beschreibt Barbara Nüsse das Probieren, den Vorgang der Verwirklichung und Materialisierung. Hoch schätzt sie das »sehr privilegierte Tun« am Theater. »Es vergeht wirklich die eigene Zeit, anders als beim Film, da vergeht sehr viel fremde Zeit.« Während sie die Worte sucht, nestelt sie an sich, wiegt die Arme, als ruhe ein Kind in ihnen, fährt sich mit beiden Händen über das Muster der Kirschen auf ihrem weißgrundigen Kleid, als wolle sie die Früchte pflücken und Ernte einfahren, bespielt bereits das Instrument des Körpers.
Den einen Typ Frau, den Barbara Nüsse verkörpert, stelle ich mir immer mit einer großen altmodischen Handtasche vor, die sie gegen ihren Oberkörper gepresst fest hält. Etwas Verhärmtes, Geduldiges und zugleich Unbeugsames liegt in dieser Geste. Stolz und Gram treiben aus einer Wurzel.
Dafür braucht die Schauspielerin nur ganz wenig, einen Moment, eine Szene, einen zurückgelegten Gang, einen Blickkontakt, etwa in einer »Bella Block«-Folge mit Hannelore Hoger als Kommissarin und sonst nur begleitet vom Totengräber Schicksal. Da rückt eine winzige Nebenfigur in die Mitte und lässt alles Ungesagte sprechen und alles Ungesehene erkennen.
Da gleicht dann die Nüsse – müd’, mürbe, mit schmalen Lippen – der ewigen Frau mit der Schürze, auch wenn um sie herum längst auf Trümmern, Ruinen und Wunden eine Wunschwelt gebaut wurde. Gewissermaßen der Marthaler-Anteil der Nüsse, den sie soeben während der Wiener Festwochen in »Riesenbutzbach« neben Silvia Fenz, Olivia Grigolli und Bettina Stucky gespielt hat: eine Kolonistin der kapitalen Krise beim Staying Alive der Verlierer, Verdrossenen und Verratenen. Diesen Aspekt sah man auch in einem von Jelineks Wortkunst-Stücken, wenn sie über »Stecken, Stab und Stangl« hinweg schweigend und strickend dem garstig gesunden Volksempfinden Gestalt verlieh.
Antifigur auch zu ihrer eigenen progressiven Biografie: jener Nüsse etwa, die seit den 60er Jahren Kunst sammelt, darunter Beuys und Blinky Palermo, Richter und Twombly.
Die andere Seite der Schauspielerin ist scheinbar grandioser, waghalsiger, tragischer. »Mich reizen die großen Gefühle und Geschichten, wenn die Sachen wüst sind, wenn sie Wahnsinn haben«, sagt die Interpretin der antiken und klassischen Heroinen, von Ibsens Salondamen und Botho Strauß’ Bundesbürgerinnen. Die Starken, die Kaputten, die zwischen ihrem inneren Gesetz und dem äußeren Druck Zerrissenen interessieren sie. »Zerbrich die Formen der Natur«, ruft der alte Lear auf der Sturmheide.
Barbara Nüsse, wie Visconti sie hätte inszenieren können – und wie Werner Schroeter sie 1989 in Düsseldorf inszeniert hat: als Kindsmörderin Medea in Hans Henny Jahnns Version des Urstoffes, barbarischer als Hebbels »Goldenes Vlies«; eine Ungeheuerlichkeit, der nicht anders beizukommen war als durch die ohrenbetäubende Überlagerung mit Beethovens Benedictus aus der Missa Solemnis. Währenddessen die Nüsse, als sei sie von ihrem durchsichtigen Gewand tätowiert, das Unfassbare tat: schlachtend ihr eigen’ Fleisch und Blut. Ein weibliches ecce homo am verkommenen Ufer der Mythen, bis der Dramentext zur Begleiterscheinung wurde und bloß »die Schaumkrone des Dargestellten« (Thomas Oberender) bildete.
Nüsse – Penthesilea. Nüsse – Agaue in den »Bakchen«. Oder Nüsse als Molly Bloom aus James Joyces Tag-Welt-Roman »Ulysses«. Mit dem Monolog ist sie vor Jahr und Tag von Theater zu Theater gezogen. »Ein Naturereignis. Ein Kunstereignis«, wie nicht nur Theater heute über ihr grandioses Solo befand.
Eine Symbiose der beiden Nüsse-Hälften könnte ergeben, was sie jetzt nach Köln führt, wo sie schon, unter Hansgünther Heyme in den 70er Jahren, gearbeitet hat: Hebbels Klara etwa, Schillers Jungfrau und Shakespeares Cleopatra. »Schön, noch einmal in diesem Haus zu spielen«, und sie rühmt das Klima an Karin Beiers Erfolgstheater (»Hier würde ich gern fest dabei sein«), bevor Abriss und Neubau beginnen, falls was draus wird und der Beschluss nicht wieder kippt, weil man in Köln ja nie so genau weiß.
Sie wird den »König Lear« spielen (Premiere am 26. September im Schauspielhaus). Shakespeares abdankender Märchenkönig und erniedrigter Vater ist mehr als ein Mann – Chiffre, Figur höherer Ordnung, Archetyp. Oedipus kann hinter einer Maske verschwinden und persona werden, Hamlet kann von einer Frau dargestellt sein, ebenso Lear. Wurde es auch schon – von Hildegard Schmahl bei George Tabori in Wien und von Marianne Hoppe bei Robert Wilson in Frankfurt.
Karin Beier sieht in dem Drama die »philosophische Farce, grotesk in ihren extrem theatralen und darin geradezu absurden Behaup- tungen«, sie vernimmt den kosmischen Witz, der die Welt aus den Fugen geraten und alle Bande reißen lässt. Folgerichtig, weil Gewalt so noch monströser, Alter noch verstörender, das arge Treiben irritierender wirke, steigert sie die Endzeit-Phantasie, indem sie das Stück ausschließlich weiblich besetzt – mit nur sechs Dar- stellerinnen für neun Rollen: Lear, Gloucester, Kent, den Narren, die antagonistischen Halbbrüder Edmund und Edgar und die Töchter Cordelia, Goneril und Regan. »Die Spiegelungen der Figuren«, auch in ihren Gut-Böse-Schema- ta, findet Nüsse interessant. Die Vielfalt des Stückes habe sie zunächst verwirrt, aber das könne auch produktiv sein.
Der Lear – überhaupt habe sie bisher ziemlich wenig Shakespeare gespielt – sei »wie ein Geschenk«. Zumal es nicht danach aussah, dass es klappen werde. Als die erste »überraschende« Anfrage kam, hatte sie sich beim Sturz von der Haushaltsleiter das Fersenbein zertrümmert und konnte beim besten Willen nicht. »Der Lear muss stehen können. Aber wie! Bei Marthaler ist das anders. Das ist ein ruhiger Job, da sitzt man sehr viel.«
Nachdem das Projekt ohnehin umdisponiert und verschoben werden musste, fügte es sich doch noch. Die Nüsse ist bereit, zu entflammen, wenn ein Regisseur »kühn«, ein Text »rüde« ist. Auch darin könnte dieser »Lear« sich behaupten, in dem eine andere Energie, Erfahrung und Erscheinung sich zur Essenz destilliert.
Sie ist keine Rheintochter, sondern ein Ruhrkind, 1943 in Essen geboren, aufgewachsen in Sprockhövel und Wuppertal, getauft auf den Namen der Schutzpatronin aller Kumpel, was dem Vater – einem Bergbau-Ingenieur – geschuldet ist. Barbara Nüsses elterliche Fabrik produzierte Bohrmaschinen und Lüfter, unter anderem für die Zeche Zollverein. Auch den Strukturwandel hat sie im Kleinen mitgemacht und die Gebäude der Familienfirma neuer gewerblicher Nutzung zugeführt. Auch wenn sie schon lange im deutschen Norden lebt, ist sie im Westen verwurzelt. Per Du mit dem Pütt, ausgestattet mit der Mitgift des Reviers: Humor und herzerquickend, geradlinig, ohne Umschweife zu sein. Wenn sie spricht, klingt es wie eine gemäßigte Pina Bausch – die gleiche Färbung, das breit gezogene Bergische, alltagstauglich.
Das Mädchen Barbara wollte und sollte ein Junge sein. »Ich war ein Sohn«, sagt sie. Männlicher Nachwuchs fehlte im Zwei-Mädel-Haus. Der Rolle entsprechend trug sie Lederhosen, spielte Indianer und mit der Märklin-Eisenbahn. Erst als sie sogar beruflich das Männer-Muster übernehmen und ebenfalls zum Bergbau wollte, sei ihr die eigene Identität bewusst geworden. »Wie aus dem Dunkel heraus«, habe sie entschieden, Schauspielerin zu werden. Das »zurückgebliebene, schmächtige Ding von 18 Jah- ren« bewarb sich in München zum Vorsprechen: erfolgreich. Drei eigentlich für sie damals unmögliche Rollen: Elektra, Medea, Johanna von Orléans. Zufall oder Notwendigkeit?
Eigentlich war sie eine ideale »Courasche«, Weiterentwicklung von Grimmelshausens Landstörzerin aus dem Dreißigjährigen Krieg, die Wilhelm Genazino für die Ruhrtriennale fort- und umgeschrieben und deren Uraufführung 2007 in Duisburg – leider unter unseligen Umständen – stattgefunden hatte. Barbara Nüsse konnte mit dem Weibsbild, »einer Frau, die richtig kämpft«, die ihr eigener Herr ist, durchaus manches anfangen. Es gibt Ähnlichkeiten. Auch die Nüsse hat sich von Abhängigkeitsverhältnissen losgesagt. Lange gehörte die Absolventin der Falckenberg-Schule keinem Ensemble fest an. Freie Unternehmerin ihrer selbst. Ein Tramp – Bern, München, Stuttgart, Bochum, Düsseldorf, Hamburg, Zürich, nun Köln. Ab 2010 bindet sie sich doch wieder: ans Thalia Theater Hamburg, wo sie zuletzt, in der legendären Baumbauer-Ära der 90er Jahre, Protagonistin im Deutschen Schauspielhaus-Ensemble war. Ein Grund für die Entscheidung ist die Nähe zum Ehemann und dem Zuhause Richtung Bremerhaven.
Fast 50 Jahre seit ihrem Tasten nach der Medea und Elektra, nach einer der reichsten deutschsprachigen Theaterbiografien – wer woll-te da ihre Lear-credibility anzweifeln. Nie, sagt Barbara Nüsse, würde sie »den Moment verschenken, den Riss in der Tiefe einer Figur zu öffnen«. Tief schürfen, unter Tage fahren. Sie tut es doch. //