// Es ist eine eigene Wissenschaft, die verschrobene, lunaeske und eigentlich unters Betäubungsmittelgesetz fallende Theaterwelt des Christoph Marthaler und seiner kongenialen Ausstatterin Anna Viebrock, die sich ab und an aus der künstlerischen Symbiose löst, um als ihre eigene Herrin über Wort und Sinn und nicht nur über Bühne und Kostüme zu gebieten. Doch bleibt der sonst gemeinsam belebte Organismus in der Solo-Inszenierung unterversorgt. Der Schauspieler Josef Ostendorf, der jetzt in Köln fast eine One-Man-Show hat, saß als sanfter Riese mit großflächigem Kindergesicht schon in manch einem Marthaler-Wartesaal des Lebens. Er müsste längst unter Artenschutz stehen, und weil wir ein Darwin-Jahr feiern, erweisen Viebrock und Malte Ubenauf einer ausgestorbenen Spezies die Referenz. Das ist einmal »Der letzte Riesenalk«, der dem Abend im Schauspielhaus den Namen gibt: ein Seevogel, dem der Eifer von Ornithologen im 19. Jahrhundert den Garaus bereitet hat. Nicht die Natur, nur das Museum kennt ihn noch – in 78 Präparaten, wie das Lexikon weiß und die Aufführung mitteilt, indem sie Museumsbesucher auf leere Postamente starren lässt, während ein Führer die Raritäten trocken zoologisch sortiert. Aber vor das Federtier aus der Familie der Pinguine schiebt sich ein anderes Exemplar, das unsere zärtliche Aufmerksamkeit verdient: der Sonderling, das Unikum, der aus Norm und Zeit gefallene Mensch, melancholisches Monstrum und Menetekel des Untergangs.
Wunder was geschieht in dem seltsamen »dämmerungsaktiven« Bühnenzwischenreich mit ausgedienten Möbeln in braun-beigen Farben: Drei Wohn-, Schlaf- und Arbeitszimmer mit Gummibaum und Vogelbauer öffnen sich nach vorn hin wie ein Besichtigungs-Schaukasten, ein Diorama. Schutzraum und geschlossene Anstalt. Darin wirkt und werkelt Ludwig (Ostendorf) in seinem zerrütteten Zustand vor sich hin, anscheinend an einer Studie über die »Urformen der Angst«, nach denen sich ein Journalist für ein Interview erkundigt und die das Stück – mehr verheimlichend, als darlegend – Marcel Beyer verdankt. Dessen Roman »Kaltenburg« über den Titel gebenden Vogelkundler verweist auf den Verhaltensforscher Konrad Lorenz und wissenschaftliche Sündenfälle während der Nazizeit.
Viebrock kommt es indes auf historische Zusammenhänge nicht an, sondern auf anthropologische Konstanten. Aus Schubfächern und Kommoden tauchen Menschen auf und verschwinden wieder. Die Innereien der Wände scheinen Geräusche hervor zu gurgeln, trötend, blökend, stöhnend, als mache sich das Anorganische organisch Luft. Ein Arzt besieht sich den »Fall« Ludwig, der ihm die Luft abdrückt, bis der Körper schlaff wegrutscht. Der Wahn aber hat Methode. Die Krankheit des Lebens offenbart ihren eigenen Geist, wenn Ostendorf in einem kurios-komischen Monolog mit dem Sensemann und über »das Ding an sich« sinniert. Das Denken denkt, das Nichts nichtet, die Wissenschaft richtet zu Grunde, und das Theater steht stille unterm Bann (der Selbstreferenz und gelegentlich Eigenparodie). Ob »Der letzte Riesenalk« nicht besser ins museale Kabinett, als ins Große Haus gehört hätte. // AWI