kultur.west: Herr Ladwig, als der Tönnies-Skandal aufkam, wurde viel über die schlechten Arbeitsbedingungen in Schlachtbetrieben diskutiert –aber kaum über die Situation der dortigen Tiere…
LADWIG: Ja, der Blick ging vor allem auf die Arbeitskräfte und auf die erhöhte Gefahr, dass sich das Corona-Virus dort schnell ausbreitet. Das zeigt, dass Menschen das Los anderer Menschen wichtiger nehmen, als das von Tieren.
kultur.west: Inwiefern unterscheiden sich die Rechte von Mensch und Tier?
LADWIG: Die meisten Juristen würden sagen, dass nur Menschen Grundrechte haben, aber Tiere nicht. Im moralischen Sinn kann man sagen, dass Tiere Rechte haben sollten, das ist auch meine Position. Aber sie sollten sie nach Maßgaben dessen haben, was sie brauchen und wozu sie fähig sind. Und natürlich gibt es da Unterschiede auch innerhalb der Tierwelt. Wenn ein Tier zum Beispiel nicht gesellig veranlagt ist, hat es nichts von einem Recht auf bestimmte Formen des soziales Lebens. Wenn es aber ein gesellig veranlagtes Tier ist, dann sollte es auch als ein soziales Wesen Berücksichtigung finden.
kultur.west: Heißt das also, dass wir am längeren Hebel sitzen, indem wir beurteilen, was wir den Tieren zugestehen? Können Tiere von uns dann so etwas wie Gerechtigkeit erwarten?
LADWIG: Ja, das glaube ich schon, aber nur nach Maßgabe dessen, was wir moralisch einsehen. Niemand nimmt uns die moralische Verantwortung dafür ab, festzustellen, was den Tieren zusteht und was nicht. Die Tiere selbst können das ja nicht tun. Wir können, indem wir uns möglichst wohlwollend in Tiere hineinversetzen, dazu etwas sagen, was für sie selbst erträglich oder zuträglich sein könnte. Das ist die Grundlage für eine mögliche gerechte Behandlung.
kultur.west: Im deutschen Tierschutzgesetz steht: »Niemand darf einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schaden zufügen.« Wie geht das mit der Tatsache zusammen, dass wir Nutztiere halten, die leben, um geschlachtet zu werden?
LADWIG: Ganz einfach: Wir verstoßen in diesem Punkt ständig gegen das Tierschutzgesetz und zwar nicht nur gegen dessen Geist, sondern auch gegen dessen Wortlaut. Zudem greift das Gesetz auch aus meiner Sicht zu kurz.
kultur.west: Inwiefern?
LADWIG: Das Gesetz akzeptiert, dass Nutztiere allein zu wirtschaftlichen Zwecken gehalten werden, um sie selbst oder ihre Produkte zu verwerten. Es schließt zwar eine ökonomisch nicht notwendige oder sogar kontraproduktive Quälerei als unverhältnismäßig aus. Aber es disqualifiziert nur den Exzess, nicht den Normalfall der Nutzung.
kultur.west: Ist es also ein Unrecht aus Ihrer Sicht, Tiere zu töten?
LADWIG: Ja. Es ist in der Tierethik seit langem gezeigt worden, dass wir moralische Ansprüche von Tieren verletzen, wenn wir sie ohne Not gefangen halten und vor der Zeit töten. Wenn man so etwas mit Tieren tut, müsste aus meiner Sicht für uns etwas mindestens ebenso Wichtiges auf dem Spiel stehen. Wir müssten also ohne Fleischkonsum weder gut noch gesund leben können, wenn wir Tiere so behandeln. Das ist aber in Gesellschaften wie unserer nicht der Fall.
kultur.west: Gewichtet das Tierschutzgesetz also die Geschmacksvorlieben von Menschen höher, als die grundlegenden Interessen von Tieren?
LADWIG: Ja, aber aus meiner Sicht ist eine bloße Präferenz für Fleisch, zu der wir ja Alternativen haben, kein moralisch-erheblicher Grund. Aber leider einer im Sinne des Tierschutzgesetzes…
kultur.west: Ihr Buch bezeichnet sich als politische Theorie der Tierrechte. Was unterscheidet Ihren Ansatz von den bisherigen?
LADWIG: Eine politische Theorie lenkt das Augenmerk darauf, dass dies alles Praktiken sind, die im Rahmen von Institutionen stattfinden, gesetzlich erlaubt sind oder sogar vorgeschrieben wie etwa Tierversuche und die deswegen auch nur geändert werden könnten, sofern wir die Institutionen und deren gesetzlichen Grundlagen verändern. Auch das ist in der Tierethik im Prinzip gesehen worden. Nur hat die politische Philosophie eine Menge über die Möglichkeiten und auch die Schwierigkeiten solcher institutionellen Veränderungen zu sagen.
kultur.west: Wenn also politische Rahmenbedingungen geschaffen würden, die das Tierwohl stärker in den Fokus rücken, könnten Sie mit der Fleischwirtschaft gut leben?
LADWIG: Nein. Ich denke, wir dürfen kein Fleisch essen, wenn wir dazu akzeptable Alternativen haben. Aber die Frage ist nicht nur, welche Verantwortung wir als Verbraucher an der Theke tragen. Viel wichtiger ist unsere politische Rolle als Bürger, in deren Namen Gesetze erlassen werden. Darunter auch solche, die Tiertötung erlauben. Oder Tierversuche, die zurzeit gesetzlich sogar vorgeschrieben sind. Ich persönlich würde sagen, wenn wir können, sollten wir als Verbraucher auf Produkte, für die Tiere gelitten haben und gestorben sind, verzichten. Aber selbst jemand, der nicht gänzlich auf solche Produkte verzichten will oder aus gesundheitlichen Gründen nicht kann, sollte trotzdem etwas für gerechtere Verhältnisse tun: indem er seine Rolle als Bürger bewusster wahrnimmt.
Bernd Ladwig ist Jahrgang 1966 und gebürtiger Kölner. Er lehrt Politische Theorie und Philosophie an der Freien Universität Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählen Theorien der Gerechtigkeit, der Menschen- und Tierrechte.
Ladwigs »Politische Philosophie der Tierrechte« ist im Suhrkamp Verlag erschienen (411 Seiten, 22 Euro).
Mit Blick auf den Tönnies-Skandal hat das Theater Gütersloh ein Stück bei Nora Gomringer in Auftrag gegeben. Darin will die Bachmann-Preisträgerin dem Fleischwarenhandel mit einer neugriechischen Tragikomödie begegnen: »Oinkonomy« feiert am 17. Oktober unter der Regie von Christian Schäfer Premiere (weitere Termine am 18., 30. und 31. Oktober, www.theater-gt.de)