Es ist ein kalter Wintertag zwischen den Jahren. In einem kleinen Café direkt neben dem Wuppertaler Hauptbahnhof sitzt Jule Weber mit einem schwarzen Kaffee vor der Nase. Sie hat den Ort vorgeschlagen, ein gemütliches Paralleluniversum inmitten von hastigen Reisenden. Hier in Wuppertal liest sie heute Abend im Kollektiv Drei ihre Gedichte bei einem feministischen Jahresausklang. Dafür habe sie sich extra aus ihrer Jogginghose geschält. Es ist genau die Art Lesung, bei der man die Poetin erwartet, vor allem wenn man ihr schon länger auf Instagram folgt. Dort bezeichnet sie sich selbst mit den Schlagworten »Poetin, Mutter, queer und Feministin«. Doch nicht nur ihr Content im Netz, auch ihre Gedichte setzen sich mit gesellschafts- und familienpolitischen Themen auseinander.
Passend dazu wirkt Jule Weber auf ihren Pressefotos nachdenklich, fast ernst. Doch im Gespräch stellt sich schnell heraus, dass die Wahlbochumerin (Zitat: »bochum, du paris des ruhrgebiets, stadt meiner liebe(n)«) viel Humor hat. Auf ebendiese Art schmettert sie direkt zu Beginn die leidige Frage nach den Anfängen ihres Schreibens ab: Man habe ihr halt in der Grundschule beigebracht, wie Buchstaben funktionieren und wie man diese zusammensetzt. Seitdem schreibe sie auch kreativ, habe schon die Poesiealben ihrer Freund*innen mit eigenen Gedichten gefüllt.
Als Teenager dann hat sie die Bühne für sich entdeckt und an Poetry Slams teilgenommen. Ein Format, das ihr nicht nur den Weg in die Literaturszene bereitet hat, sondern generell dabei helfe, der Literaturwelt den Staub abzuklopfen: »Als Jugendliche fehlten mir vor allem in der Schule immer Repräsentant*innen«, erinnert sie sich, »ich dachte, Leute, die beruflich schreiben, seien entweder mega alt oder tot. Deswegen wäre mir nie die Idee gekommen, dass man damit tatsächlich Geld verdienen kann«. Heutzutage steht die Poetin mit Kreativworkshops selbst vor Jugendlichen und beweist ihnen somit das Gegenteil. Ihr Beruf ist das Schreiben – und das sehr erfolgreich: 2012 gewann sie die hessischen und deutschsprachigen Poetry-Slam-Meisterschaften in der Kategorie U20. Erst im vergangenen Jahr wurde ihr in Hamburg der »Kampf der Künste Award« verliehen. Dabei ist ihr wichtig zu betonen, dass dieser Erfolg nicht nur mit Talent zu tun hat: »Inzwischen stört es mich richtig, wenn manche Leute mir sagen, dass ich so talentiert sei. Ja, das stimmt bestimmt auch, ich habe generell einen guten Zugang zu Sprache und als Kind schon wahnsinnig viel gelesen, aber es gehört viel mehr dazu. Bei einem Basketballer reicht es auch nicht aus, 1,90 groß zu sein. Ich trainiere viel, gebe mir viel Mühe und bin sehr konsequent.«
Schreiben braucht Übung
Diese Konsequenz zeigt sich vor allem in ihrer Schreibpraxis. Denn Jule Weber schreibt jeden Tag. »Da kommt um Himmels Willen nicht immer was Gutes bei heraus«, stellt sie lachend klar. Aber man müsse sich bewusst machen, dass das Schreiben auch Übung bedarf. Dass sie diese Übung hat, zeigt sich auch im Dialog, findet sie doch immer die passenden Worte, Bilder und Vergleiche, um ihre Punkte klar zu machen. Etwa indem sie ihre Schreibpraxis mit anderen Kunstformen vergleicht: Ein Pianist könne ja auch nicht einfach ein komplexes Stück spielen. Es brauche Übung, es brauche Skizzen. Eine Malerin übe in ihrem Skizzenbuch vielleicht wochenlang Hände zu zeichnen. Sie selbst übe eben Gedichte über Vögel zu schreiben – eines ihrer Lieblingsmotive: »Wenn ich das hundertste Gedicht über Meisen im Gebüsch schreibe, dann werde ich einfach immer besser darin, das Gefühl einzufangen, das sie mir geben.«
Es mache auch einen Unterschied, ob man fürs Papier oder für die Bühne schreibe. Anders als viele ihrer Kolleg*innen gibt sie ihre Bühnengedichte deshalb nicht als Textsammlung heraus: »Die gehören nicht abgedruckt, sondern gesprochen und geatmet«, findet die Lyrikerin. Will man Jule Weber zum Nachlesen haben, geht das trotzdem: Als Teil des Kollektivs »Verschwende deine Lyrik« hat sie 2021 mit ihrem Kollegen Jonas Galm den Band »Weber x Galm. 7 Tage 7 Gedichte« herausgebracht.
»Es geht darum, etwas zu sehen, wahrzunehmen, zu empfinden, zu denken und das in eine Sprache zu transportieren, die anderen Menschen einen Zugang gibt.«
Jule Weber
Ihre täglichen Gedichte sammelt sie in einem langen Textdokument. Manche schaffen es auf die Bühne oder in Anthologien, andere nicht. »Wenn ich mit jedem zehnten Gedicht zufrieden bin, dann habe ich alle zehn Tage ein gutes Gedicht. Würde ich zehn im Jahr schreiben, hätte ich jedes Jahr nur eins«, erklärt sie ihre einfache Rechnung. Es reiche eben nicht, sich hinzusetzen und auf die Muse zu warten. Diese küsse einen ebenso wenig wie irgendjemand anderes einfach so beim Warten auf der Parkbank: »Du musst die Muse schon kennenlernen, dann beginnt die Beziehungsarbeit.« Schreiben sei eben einfach Arbeit.
Zu dieser Arbeit als Autorin gehöre natürlich vieles, was deutlich weniger romantisch sei. »Blöde Büroarbeit«, zum Beispiel. Und: Social Media. Die Präsenz auf den sozialen Medien sei einfach Teil des Jobs, findet Jule Weber. Zum Glück, denn ihr Account ist eine wohltuende Bereicherung in der sonst so perfekt anmutenden Social-Media-Realität. Ihr Auftreten ist authentisch, zeigt die Lyrikerin mit ihrer »Wahlfamilie« beim Spaghettiessen in ihrer Bochumer WG namens »Fuchsbau«, beim Kuchen nach der Psychotherapie oder den Schulaufgaben mit ihrer 13-jährigen Tochter. Fester Bestandteil des Accounts ist auch die wöchentliche Ankündigung der nächsten Folge ihres Podcasts mit dem vielsagenden Titel »Ich kann nicht gut mit Menschen«. Jeden Montag tauscht sie sich mit ihrem Kollegen Malte Küppers über alles mögliche, aber vor allem das Für und Wider zwischenmenschlicher Interaktion aus.
#washeutegutwar
Und auch die Lyrik spielt natürlich eine Rolle auf Instagram. Immer mal wieder teilt Jule Weber kleine Gedichte, die in ihrer Kürze die radikale Sanftheit und zarte Rebellion ihrer Kunst repräsentieren. Ein Highlight ihrer Community ist außerdem ihre tägliche Rubrik #washeutegutwar. Unter diesem Hashtag, entlehnt von Autorin Anna Luz de León, sammelt sie jeden Tag eine gute Begebenheit – #unbedingtermöhrenkuchen oder #mittagsschlaf zum Beispiel. Das sei eine schöne kleine Achtsamkeitsübung, die andere zum Mitmachen motiviere. Es gehe darum, an jedem Tag einen guten Moment zu finden – auch wenn gerade gefühlt nichts rund läuft.
Nach unserem Gespräch liest die Autorin mit warmer Stimme in intimer Atmosphäre bei der feministischen Lesung gemeinsam mit drei Kolleg*innen. Ihre Poesie passt zu dem Eindruck, den sie als Person hinterlässt: Sie ist tiefgründig, bohrend, nachdenklich, politisch und humorvoll. Und natürlich voller Vögel. Da werden Flügelschläge von Kolibris gezählt, schlafen Schwalben im rauschenden Schilf und Elsterfedern leuchten blau-schwarz. Auch aus der Formvielfalt von Lyrik schöpft sie souverän, liest eine Sestine ebenso wie ein langes erzählendes Gedicht über ein Mädchen im Kirschbaum, das tief berührt. Die Zärtlichkeit im Umgang mit der Poesie hilft ihr sicherlich auch, bei ihrem nächsten beruflichen Schritt die passenden Worte zu finden: Für 2024 steht neben ihren Soloshows eine Fortbildung zur Trauerrednerin an, Traurednerin (kleiner, aber feiner Unterschied) ist sie bereits.
Termine in NRW:
»Trotz alledem« Solo-Show
14. März, Zakk, Düsseldorf
24. Mai, Comedia Theater, Köln
DIE LETZTE MACHT DAS LICHT AUS
die kollaborative allianz zweier körper im absoluten ruhezustand
in der heiligkeit zwischen den kissen kein raum für negativität
kein platz für einen einzigen zentimeter abstand der ruhenden
dein arm unter mein über dich die weichen und harten stellen
beine zwischen beine neben decken ein fuß reibt am laken
in der stille nur der vollkommene gleichtakt von lungen und herzen
fingerspitzen unter den stoff auf die unmittelbare wärme der haut
am ende aller kreisbewegungen und routinen warten wir
aufeinander, auf die nacht, auf die schwere in den lidern
auf die leichtigkeit nebeneinander ins off zu fallen ohne angst
Jule Weber