Große Bewegung. Die Kamera schwebt über der Stadt, erfasst Häuser, Plätze, ein ganzes Viertel, um sich dann einem bestimmten Ausschnitt, einem hell erleuchteten Fenster zu nähern, hinter dem Emilie in der Wohnung ihrer im Heim untergebrachten dementen Großmutter lebt. »Sieht aus wie Shanghai«, sagt eine Besucherin, als sie aus dem Hochhausfenster auf das 13. Arrondissement schaut, bekannt auch als asiatisches Quartier. Der deutsche Titel von »Les Olympiades» ist eine Orts-, keine Zustandsbeschreibung: »Wo in Paris die Sonne aufgeht«. Ob die Sonne des Glücks auf die jungen Leute dieser Geschichte scheint, bleibt ungewiss.
Zum Schluss singt eine lasziv müde Stimme »Falling in Love again« – im Original der Marlene-Dietrich-Klassiker »Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt. Ich kann halt Liebe nur und sonst gar nichts«. Die Liebe bzw. das Begehren ist der Impulsgeber. Gefühle bleiben hier entweder virtuell und indirekt oder aber steigern sich ins Absolute – nichts dazwischen. Sex scheint das einzig funktionierende Ausdrucksmittel zu sein, die einzige Situation, in der die Figuren sich wohl fühlen oder sich vergessen können.
Emilie Wong (Lucie Zhang) ist Politikwissenschaftlerin mit chinesisch-taiwanesischen Wurzeln, sprunghaft, schnippisch, geht gleich in die Offensive, nimmt Drogen, sucht sich wahllos Sexpartner und hat doch ein romantisches Gefühl. Heute arbeitet sie in einem Callcenter, morgen schon als Bedienung im Restaurant. Sie entscheidet sich dann doch für den schwarzafrikanischen Literaturlehrer Camille Germain (Makita Samba) als Mitbewohner, obwohl sie eigentlich eine Frau bei sich einziehen lassen wollte. Sex ersetzt das Kennenlernen. Er will keine Beziehung, sie seien kein Paar, sagt Camille, der selbstbewusst ist, siegessicher und etwas herablassend. Emilie reagiert gereizt. Grenzen werden gezogen. Klare Verhältnisse, bis auf weiteres. Camille wirft den Lehrerberuf hin und jobbt in einem Maklerbüro.
Dort trifft er Nora (Noémie Merlant) aus Bordeaux, die schon 33 ist und an der Sorbonne Jura studiert, aber ebenfalls abbricht, weil sie von Kommilitonen gemobbt wird. Sie hatte sich auf einer Pornoseite im Netz verirrt und bleibt fasziniert dran, verkleidet und inszeniert sich als Cam-Girl Amber Sweet unter blonder Perücke. Bilder von ihr kursieren auf den Handys der Mitstudenten. Noras Affäre mit Camille ist schnell beendet, dafür freundet sie sich mit der ‚echten’ Amber Sweet an. Als sie sich live verabreden, sonntags im Park, zelebriert der Film ihren Kuss wie das Wunder einer Erweckung.
Basierend auf Short Stories und Graphic Novels des US-Cartoonisten Adriane Tomine, ist Jacques Audiard Schwarz-Weiß-Film eine Inventur des Gefühls, inszeniert als Choreografie rascher Veränderung: Splitscreen, Zeitsprünge, Zufälle, abrupte Berufswechsel, soziale Einbahnstraßen, periphere Beziehungen, Tempowechsel. Seine Adjektive lauten: ausgelassen, wild, ungesichert, verzweifelt, schwach, ortlos, lebendig. Außer Atem, sechs Jahrzehnte später.
»Wo in Paris die Sonne aufgeht«, Regie: Jacques Audiard, Frankreich 2021, 106 Min., Start: 7. April