Das Wetter ist zu unberechenbar, als dass wir es ganz den Meteorologen überlassen sollten. Das wusste keiner so gut wie Robert Musil, als er zum Auftakt von »Der Mann ohne Eigenschaften« ein »barometrisches Minimum« vom Atlantik Richtung »Kakanien« verschob und dabei nicht vergaß, auch Isothermen und Isotheren zu erwähnen. So genau muss es ja nicht sein. Wir haben einfach mal das Thermometer ins Buch gehalten.
UNTER HOCHDRUCK
1943: Truman Capotes »Sommerdiebe«
Siedepunkt New York City. Eigene Erinnerungen, etwa an den Geruch – ja – von Stein, nicht bloß von Asphalt, teilt der Leser mit Truman Capotes 17-jähriger Grady McNeil. »Hitze öffnet den Schädel einer Großstadt, legt ihr weißes Gehirn bloß und ihr Herz aus Nerven, die prasseln wie die Drähte in einer Glühbirne«. Eindrücke, die sich im Kopf mit Kino-Bildern überblenden. Seltsamerweise oft Schwarzweißbilder, als seien die ein besserer Wärmespeicher. Capotes Temperatur gleicht der von »Psycho«, die Marion Crane in stickigen Zimmern und später auf den Straßen unterwegs zu ihrem Tod auf ihrem Körper spürt wie ein Brandmal; es ist die Hitze, die Marilyn Monroe abschüttelt, wenn sie für Billy Wilder über dem Lüftungsschacht der Subway steht, breitbeinig, das weiße Kleid sich bauschen lässt und es herrlich findet. Die Feuertreppen der Brownstone-Häuser und die auf den Fenstersimsen angebrachten, oft rostigen Klimageräte vor Augen, denkt man (nun in Farbe) auch an Hitchcocks »Rear Window«, an die Schweißperlen auf James Stewarts Stirn und das Treiben der Bewohner im Hof, darunter das Ehepaar, das im drückenden Klima sein Nachtlager auf dem Balkon aufschlägt.
Truman Capote grundiert mit der glutheißen Atmosphäre seine Love Story »Sommerdiebe« zwischen der Park Avenue-Prinzessin Grady und dem derben jüdischen Clyde aus Brooklyn. 1943 begonnen, war der schmale Roman sein wahres Debüt und nicht das lange dafür geltende, ihn rasant berühmt machende Prosawerk »Andere Stimmen, andere Räume«. Gegenüber »Frühstück bei Tiffany«, dem Oktober-Buch, das den Regen braucht, ist »Sommerdiebe« denkbar nur in der Hoch-Zeit des Jahres. Parallel zu der bildhaft konkreten Schilderung der Wetterlage (»als die Hitze sich um alles schloss wie die Hand um den Mund eines Mordopfers«) wählt der Autor entsprechende Metaphern. Die Sprache funktioniert wie ein Barometer zur Bestimmung der Seelenlage, sie misst den Druck und senkt ihn durch die Gegenkraft der Imagination: die Himmelsbläue eines Bettes, »Seen aus Licht« in einem Zimmer, »der Schnee« der Schonbezüge auf dem Mobiliar, Kopfweh, kreisend wie ein »elektrischer Ventilator«, und der Wolkenbruch, der Gradys Gedächtnis flutet und ihr Sommerglück in die Zeitlosigkeit fortschwemmt. | AWI
Truman Capote: »Sommerdiebe«; Goldmann, 160 S., 7 Euro
BIS ZUR WEISSGLUT
2001: Ian McEwan leistet »Abbitte«
Es ist der Sommer des Jahres 1935, eine ungewöhnliche Hitze lastet auf Surrey, Südengland. Im Landhaus der Familie Tallis steht die Zeit. Der weitläufige Park liegt »brütend wie eine Savanne«, »wild und trocken, mit vereinzelten Bäumen, die scharfe, gedrungene Schatten« werfen. Die Erwachsenen sorgen sich über einen Krieg mit Deutschland, die 13-jährige Briony ist von Anderem fasziniert, sie hat ihrem großen Bruder Leon ein Theaterstück geschrieben, ein pubertäres Melodram, in dem es um falsche und um reine Liebe geht. Um schicksalhafte Fehler; um Bestrafung und Läuterung. Darsteller sollen Kusine Lola und deren zwei kleinen Brüder sein, die heute angereist sind, weil ihr eigenes Zuhause in die Wirren einer Scheidung geraten ist. Im Dämmerlicht ihres Zimmers liegt Emily Tallis, die Hausherrin, die gegen den Kopfschmerz kämpft. »Emily dachte an die immense Hitze, die über Haus und Park aufstieg, diesig über den Grafschaften rund um London lag und Höfe und Städte erstickte, und sie dachte an die glutheißen Schienen, die Leon und seinen Freund herbrachten, an das Abteil unter schwarzem Dach, in dem sie bei offenem Fenster geröstet wurden. Sie hörte, wie das Haus sich ächzend dehnte.«
Während Leon erwartet wird, ist Cecilia schon da, Brionys ältere Schwester, zwischen der und Robbie Turner eine seltsame Spannung herrscht. Robbie, Sohn der Zugehfrau, verkehrt seit jeher wie ein Familienmitglied im Haus, er und Cecilia kennen sich seit Kindertagen, neuerdings aber sind sie wie Hund und Katze. Die Zankerei eskaliert am nachgemachten Bernini-Brunnen, in dessen Wasser Cecilia schließlich, halb entkleidet, steigt – fassungslos-erregt beobachtet von Briony. Der Tag wächst, die Hitze steigert sich zur weißen Glut, aus den Reibereien von Cecilia und Robbie platzt die lange unterdrückte Leidenschaft. Die Fantasie der jungen Dichterin fängt Feuer: Wiederum heimlich liest Briony einen obszönen Liebesbrief Robbies an »Cee«, und als am Abend dieses heißen Tages Lola vergewaltigt wird, steht für Briony fest, wer einzig als Täter infrage kommt. Das Mädchen spielt Schicksal. Als sei sie das Gewitter am Ende dieses aufgeheizten Tages, vernichtet sie Robbies Zukunft. | UDE
Ian McEwan: »Abbitte«; Diogenes Verlag, 544 S., 12,90 Euro
HITZESTAU
2006: Wolf Haas’ »Das Wetter vor 15 Jahren«
Ein vollgepacktes Auto und ein Junge, der die Kilometer zählt. Die alljährliche Fahrt mit den Eltern in die Sommerferien nach Österreich. Es war die Zeit vor den Klimaanlagen im Auto; für Erfrischung gab es nur zwei Strategien: Natürlich ließen sich die Fenster ein Stück herunterkurbeln, so dass der Fahrtwind laut und heftig ins Auto knallte, was aber von den Eltern unter Androhung einer gesalzenen Erkältung mit anschließender Lungenentzündung unterbunden wurde. Blieb die Lüftung, die aber auch nur träge fauchend die heiße Luft über der Autobahn ins Wageninnere schaufelte.
In Wolf Haas’ Roman »Das Wetter vor 15 Jahren« fährt Vittorio Kowalski aus Essen-Kupferdreh auf der Rückbank in die Ferien. Es ist heiß, wahrscheinlich so heiß, dass das billige Thermometer überdreht ist. Das Auto ist bis in den letzten Winkel vollgestopft mit Kühltaschen, Rucksäcken und Campingliegen; die Aussicht auf die flimmernde Autobahn wird von den schwitzenden Nacken der Eltern eingerahmt. Wolf Haas hat zu allem Überfluss noch eine leuchtendgelbe, zusammengefaltete Luftmatratze in den Fußraum der Kowalski’schen Familienkutsche gepackt, die ihr Übriges tut: Sie riecht.
Und das nicht zu knapp – sie verströmt einen bestialischen Gestank; ja, sie scheint sich fast aufzulösen in der »kochenden Autozelle«. In Vittorios hitzeumnebelter Fantasie war diese Matratze ein »krankes Lebewesen, ein verendender Organismus, der sich nicht ausdehnen darf. Die Luftmatratze braucht die ganze Luft zum Überleben ihres Krisenzustandes da hinter dem Beifahrersitz.« Das stinkende Ding wurde so zu Vittorios Leidensgenossen, darauf hoffend, sich auf einem kühlen Bergsee entfalten zu können. In einem dieser Urlaube wird sich Vittorio in Anni verlieben und 15 Jahre auf ihren Kuss warten. Als er ihn dann bekommt, spürt er ihn nach Stunden noch immer: »Er brennt auf der WangeWange«. | VKB
Wolf Haas: »Das Wetter vor 15 Jahren«; dtv, 224 S., 8,90 Euro
AUS DEM HALBSCHATTEN HERAUS
1957: Alain Robbe-Grillets »Die Jalousie oder Die Eifersucht«
Wenn es an etwas in Alain Robbe-Grillets Roman »Die Jalousie oder Die Eifersucht« nicht mangelt, dann sind es Zahlen: Die Bananenplantage wird auf Reihe und Wurzelstock genau vermessen, die Größe der sonnenbeschienen Fläche an der Westwand des Anwesens zentimetergenau angegeben, die Teller auf dem Terrassen-Tisch und die Lampen auf dem Büffet werden durchgezählt. Vergessen hat Robbe-Grillet allerdings, das Thermometer abzulesen. Gemessen an der Zeit, in der sich die Eiswürfel in den Drinks auflösen, dürfte die Hitze jenseits der Erträglichkeit liegen. Denn »La jalousie« ist in einer Region angesiedelt, in der Kolonialherren nur mit Chinin durch den schwülen Tag kommen.
Trotz fiebersenkender Mittel geht es in dieser geometrisch detailliert ausbuchstabierten Dreiecksgeschichte heiß zu: »A.« hat ein Verhältnis mit Franck, dem Nachbarn. So die Vermutung ihres Mannes, dem Erzähler der Geschichte. Wenig erfährt der Leser über diesen Mann, dabei kennt er nur seine Sicht der Dinge: die verzerrte Perspektive des Eifersüchtigen. Das Bewusstsein des Erzählers verwandelt sich zusehends in einen hochtourig laufenden Registraturapparat, der die Welt unablässig auf Indizien abtastet. Wie stehen die Stühle zueinander? Wie weit sind die Gläser voneinander entfernt? Ist A.s sehr eng anliegendes Kleid zu knapp geschnitten, und ist es nicht grundsätzlich so, dass weniger knapp geschnittene Kleider die Hitze besser ertragen lassen? So bewegt sich »La jalousie« im dunkelroten Bereich der Leidenschaftsskala und ist zugleich einer der coolsten Romane, die je zu Papier gebracht worden sind. Denn Robbe-Grillet temperiert in »La jalousie« die Gattung auf den Gefrierpunkt herunter, indem er die detektivische Vermessung der Dinge zum Programm erhebt. | ANK
Alain Robbe-Grillet: »Die Jalousie oder Die Eifersucht«; Reclam, 133 S., 3 Euro
AUFGEKLAPPTE ACHSELHÖHLE
1957: Martin Walser: »Ehen in Philippsburg«
In Philippsburg ist es heiß, extrem heiß, »die Hauptstraße eine glühende Schlucht«, »die Leute beobachten einander beim Schwitzen«. In der Straßenbahn »strecken (sie) noch ihre Hände zu den Halteringen hinauf, daß man, wohin man sich auch dreht, die Nase in eine weit aufgeklappte Achselhöhle streckt.« Philippsburg ist Stuttgart, nicht nur im Hochsommer, sondern auch in den hitzigsten Wirtschaftswunderjahren der Bundesrepublik. In diesen Kochkessel voll mit Aufbaufuror und Aufstiegsgerempel, mit Nazibodensatz, neureichen Fettaugen und Eitelkeitsblasen taucht Hans Beumann ein, frisch von der Uni. Philippsburg schlägt ihm mit einer Temperatur entgegen, die nachgerade tropisch-surreal anmutet, selbst im Gartencafé: »Die Gäste hingen auf den Stühlen herum wie Ballone, die einen Teil ihrer Gasfüllung eingebüßt haben. Die Kellnerinnen klebten an den Rinden der Kastanienbäume und atmeten rasch und hörbar. Ihre Augen lagen auf den unteren Lidern und starrten reglos in den Kies.« Hans Beumann aber »wehrte sich bald nicht mehr gegen die verbrauchte Luft, er wehrte sich auch nicht mehr gegen die Berührung mit anderen Fußgängern«. Er begreift bald, dass so ein heißer Tag »viele Schranken wegschmilzt« – die Schranken von Zurückhaltung und Moral. Der junge Mann aus einfachen Verhältnissen sucht Anstellung, bekommt sie, und einmal erhitzt, weiß er nach kurzer Akklimatisation so geschickt im schwülen Philippsburger Milieu aufzugehen, dass er nach oben treibt. Während andere neben ihm zu Boden sinken: Zwei Selbstmorde und ein tödlicher Unfall sind das Blutsalz in der Suppe dieses Wohlstandsbürgerromans. | UDE
Martin Walser: »Ehen in Philippsburg«; Suhrkamp Verlag, 352 S., 10 Euro
AM SCHMELZOFEN
1954: Alfred Besters »Geliebtes Fahrenheit«
Die Hitze hat schon manchen zum Wahnsinn getrieben. Aber nicht so wörtlich wie in dieser Geschichte. Sie beginnt mit einer Suchaktion im Reisfeld. Lange Reihen von Menschen stochern durch »eine schachbrettartige Tundra, ein blaues und braunes Mosaik unter einem orangefarben brennenden Himmel.« Wir befinden uns auf Paragon III, einem schwülen Planeten, auf dem Reis in gigantischen Monokulturen angebaut wird. In einem der Felder liegt ein totes Mädchen, allem Anschein nach umgebracht von einem Androiden. Das kann nicht sein, eigentlich. Androiden sind so gebaut, dass sie Menschen nicht schaden können. Auch James Vandaleur, Playboy und Taugenichts, steht vor einem Rätsel. Ihm gehört der künstliche Mensch, der das Mädchen getötet hat. Soll er ihn ausliefern? Verschrotten? Aber wer übernimmt dann die Arbeit? Vandaleur entscheidet sich abzuhauen. Ab hier beginnt eine abenteuerliche Flucht von Planet zu Planet. Eine Weile arbeitet Vandaleurs Android normal, dann begeht er grausige Morde an Schmelzöfen und in infernalischen Kraftwerken. Erst spät dämmert es Vandaleur, dass der Killerinstinkt seiner Kreatur mit der Umgebungstemperatur zu tun hat. Ab 100 Grad Fahrenheit (37 Grad Celsius) dreht der Android durch. Aber ist das alles?
Tatsächlich ist »Geliebtes Fahrenheit« mehr als ein whodunnit im Science-Fiction-Gewand. Alfred Besters Geschichte ist ein literarisches Experiment. Die Perspektive wechselt ständig von »ich« zu »er« zu »wir«. Das geht schon im ersten Absatz los: »Er weiß nicht, wer von uns wir dieser Tage sind, aber sie kennen eine Wahrheit. Man darf nichts außer sich selbst besitzen.« Das Spiel mit der Identität ist kein postmoderner Schnickschnack. Es ist Teil des Rätsels: Hat Vandaleur seine Mordgelüste auf den Androiden projiziert, oder umgekehrt? Hat er manche Opfer selbst umgebracht? Wer ist »ich«, wer ist »er«, wer ist »wir« in dieser Erzählung?
Alfred Bester: »Geliebtes Fahrenheit«, in: »Aller Ganz der Sterne«, Suhrkamp, 184 S., vergriffen
LAND UNTER
1864: Jule Vernes »Reise zum Mittelpunkt der Erde«
Kein Wunder, dass dem 19-jährigen Axel bei dem bloßen Gedanken, mit seinem Onkel Otto Lidenbrock, dem Professor für Mineralogie und Geologie, auf Tour zu gehen, ganz fiebrig wird. Denn wenn die Wettervorhersage zutrifft, dürfte es am Zielort ungemütlich werden. Doch was heißt hier überhaupt Wetter, wenn die Reise unter die Erdoberfläche gehen soll. Grob überschlagen, kommt Axel auf eine Temperatur von 2000 Grad im Erdinneren, was nicht nur Metalle und Steine verflüssigt, sondern sich auch auf den Aggregatzustand von Onkel und Neffen unvorteilhaft auswirken könnte. Doch im Jahr 1863, in dem Jules Vernes »Reise zum Mittelpunkt der Erde« stattfand, sind wissenschaftliche Theorien noch ausreichend spekulativ und widersprüchlich, um den Forscherdrang nicht durch lästige Gewissheiten zu zügeln.
Also schiffen sich Onkel und Neffe zügig Richtung Island ein, um der Sache auf den Grund zu gehen. Dort befindet sich im Krater des Sneffels Yocul die Abenteuer-Einstiegsluke. Mit dabei haben sie ein Thermometer, dessen Skala immerhin bis 150 reicht, was angesichts der Tragweite des Unternehmens merkwürdig optimistisch scheint. Doch siehe da: Das Quecksilber klettert nur auf hochsommerliche 32 Grad. Da trifft es sich gut, dass unter der Erde nicht nur meterhohe Riesenchampignons und bissige Dinosaurier gedeihen, sondern auch Ozeanwellen an goldene Sandstrände plätschern. | ANK
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