Ein gutes Buch! Die kultur.west-Redaktion hat Autor*innen nach Literaturempfehlungen gefragt. Auf in den Lese-Sommer!
Elina Penner empfiehlt:
»Radikale Kompromisse. Warum wir uns für eine bessere Politik in der Mitte treffen müssen« von Yasmine M’Barek (bei Hoffmann und Campe)
»Ich liebe Gen Z. Sehr sogar. Ich bin ihnen für viele Dinge dankbar, auch als Durchschnitts-Millennial. Dafür, dass sie so wundervolle Begriffe wie Fuckboi und Shaming von uns übernommen und als Standard etabliert haben. Und natürlich bin ich dankbar für Yasmine M’Barek. Eine Gallionsfigur des besonnenen Internets. Und ja, das gibt es. ‚Radikale Kompromisse‘ heißt ihr Buch und auch wenn mich normalerweise nichts in die Sachbuch-Abteilung bewegen könnte, für dieses Meisterwerk mache ich gerne eine Ausnahme. Während um uns herum die verschiedenen Social-Media-Plattformen aber auch der öffentliche Diskurs immer mehr diesem Dorf in Gallien ähnelt, bleibt M’Barek standhaft und unbeeindruckt wie Kleopatra. Direkt zu Beginn startet sie mit der Detonation einer transgenerationalen Diskussion: sie gendert nicht. Sie tut vieles nicht, behält aber eines, die Ruhe nämlich. Schreiben tut sie über alles, was uns bewegt. Uns als Land, als Bürgerinnen und Bürger, als Politik-Interessierte. Das tut sie mit einer klugen, witzigen, ja sowohl unterhaltsamen als auch informierenden Art, von der noch ganz andere etwas lernen könnten. Wer seine Nachrichten von Telegram, TikTok oder Reels bezieht, dem sei dieses Buch empfohlen. Uns Millennials wird vorgeworfen, so leicht schmelzend wie Schneeflocken zu sein, dass wir keine anderen Meinungen aushalten würden. Nun, ich möchte nicht unbedingt widersprechen, schließlich verbringe ich sehr viel, viel zu viel Zeit im Internet, so dass es gut war, einmal wieder in die Welt der Realpolitik einzutauchen. Ich gehe nun zurück zu meinen geliebten Romanen.«
Elina Penner
…wurde 1987 als mennonitische Deutsche in der ehemaligen Sowjetunion geboren und kam 1991 nach Deutschland. Nach Jahren in Berlin und in den USA lebt die Autorin mit ihrer Familie in Ostwestfalen. Im März erschien ihr Debütroman »Nachtbeeren«. Ihre nächsten Lesungen in NRW finden am 10. Juni in Köln und am 26. August in Minden statt.
Yannic Han Biao Federer empfiehlt:
»LTI« von Viktor Klemperer (bei Reclam)
»Eigentlich hatte ich einen Titel der jüngsten Gegenwartsliteratur empfehlen wollen, einen gerade erschienen Roman oder etwas Essayistisches aus den letzten Jahren, aber nun treibt mich doch wieder Victor Klemperer um, der Romanist aus Dresden, den die Nazis 1935 aus dem Amt trieben, den sie enteigneten, in ein sogenanntes Judenhaus zwangen, er musste Schwerstarbeit leisten, trotz seiner Herzschwäche, und obwohl um ihn her gemordet und gestorben wurde, führte Klemperer seine Studien fort, heimlich schrieb er Tagebuch, protokollierte, was um ihn her geschah, was die Menschen ihm zutrugen, und wichtiger noch: er analysierte und sezierte die Sprache des Nationalsozialismus, die Lingua Tertii Imperii, kurz: LTI, wie er sie spöttisch nannte, um ihr großtuerisches Pathos zu persiflieren. Er beschrieb ihre Machtwirkung, die Verzerrung der Wirklichkeit, die von ihr ausging, und das auf eine Weise, die sich bis heute ungemein hellsichtig liest, unübertroffen. Wären seine Manuskriptseiten der Gestapo in die Hände gefallen, bei ihren regelmäßigen Durchsuchungen, sie hätten ihn ins Lager verschleppt. Aber er überlebte und seine Aufzeichnungen mit ihm, schon im Juni 1947 publizierte er einen schmalen Band mit dem Titel: LTI. Notizbuch eines Philologen. Heute sind von Klemperers Tagebüchern nur die Bände 1933 bis 1945 lieferbar, die übrigen findet man höchstens noch im Antiquariat. Sein 60. Todestag verstrich weitgehend unbemerkt am 11. Februar 2020. Vielleicht kommt der »LTI« in diesen Tagen, da sich ihr Erscheinen zum 75. Mal jährt, etwas mehr Aufmerksamkeit zu.
Yannic Han Biao Federer
…wurde 1986 in Breisach am Rhein geboren und lebt in Köln. Für seinen Prosatext »Stay hungry« bekam er 2018 den Hauptpreis der Wuppertaler Literatur Biennale. 2019 erschien bei Suhrkamp sein Debütroman »Und alles wie aus Pappmaché«. Im selben Jahr las er bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt aus seinem Text »Kenn ich nicht«, für den er den 3sat-Preis gewann. Im März ist sein zweiter Roman »Tao« erschienen, aus dem er am 2. Juli beim LiteraturSommerHellweg im Wasserschloss Haus Opherdicke in Holzwickede liest.
Judith Kuckart empfiehlt:
»Vendela Vida. Die Gezeiten gehören uns« (bei Hanser)
»Eulabee ist klug, scharfsinnig und widerspruchsfreudig. Maria Fabiola ist schön, hat die perfekten Haare, und das wird auch so bleiben. Den beiden Dreizehnjährigen und ihren Freundinnen gehören Anfang der Achtziger Jahre und noch vor der Tech-Boom-Ära die Straßen von Sea Cliff/Bay Area, von wo aus man die Golden Gate Bridge sieht. Den Mädchen gehören auch die Klippen am Meer, wo sie mit den Gezeiten um die Wette rennen. Das Klingeln ihrer Armreifen ist Zukunftsmusik, die verspricht, einmal keine durchschnittliche Biografie, sondern ein dramatisches Schicksal zu haben. Eines Morgens, als Eulabee und Maria Fabiola mit Freundinnen und Faltenrock zur Schule gehen, fragt sie ein Mann in einem weißen Wagen nach der Uhrzeit. Eulabee schaut auf ihre Swatch. Bei den anderen drei Mädchen passiert im Schlepptau von Maria Fabiolas Phantasie und Wunsch etwas anderes. Sie, charismatisch und geltungssüchtig, behauptet, der Mann habe sich »angefasst«. Eulabee widerspricht der Geschichte ihrer Lieblingsfreundin, und wird ab da von allen als Verräterin geschnitten. Dann verschwindet Maria Fabiola plötzlich und liegt eines Tages ebenso plötzlich wie ein Findelkind wieder auf den Stufen ihres Elternhauses. Die »Entführung«, von der sie der Polizei erzählt, wird ein Triumph. Beim Lügen schauen alle sie an. Wenig später verschwindet auch Eulabee. Während sich Maria Fabiola und Eulabee auf ihre unterschiedlichen Weisen wichtig nehmen und so unnötig mit ihrem Kinderkram die Polizei beschäftigt, wird tatsächlich ein Mädchen umgebracht: Gentle, die unrasierte Hippiebraut…
Judith Kuckart
…ist eine deutsche Tänzerin, Choreografin, Regisseurin und Schriftstellerin. 2020 war sie Stadtschreiberin von Dortmund und realisierte einen Film über Hörde. Aus ihrem jüngsten Buch »Café der Unsichtbaren« (bei Dumont) liest sie am 13. Juli in der Zentralbibliothek Düsseldorf. Ihre Inszenierung von »Skoronel Reloaded« ist am 18. und 19. Juni im Maschinenhaus Essen zu sehen.
Theresia Walser empfiehlt:
»Den Krieg den keiner wollte« von Frederik Taylor (bei Siedler)
»Ausgerechnet für den Sommer jetzt ein Buch über den Vorabend des 2. Welt-Kriegs?! Der englische Historiker Frederik Taylor hat eine Geschichte der Jahre 1938/39 geschrieben, die in diesen Tagen aktueller ist denn je: Eine Mischung aus klassischer Geschichtsschreibung – mit Fakten und Daten, die angefüllt werden mit Tagebuchnotizen, Zeitungsnachrichten und persönlichen Schilderungen, bis hin zum täglichen Wetter in unruhigen Zeiten. Da sitzt man gerade im Theater oder in der Bar nebenan und trinkt, während ein paar Straßen weiter die Synagoge brennt. Das Material stammt weitgehend aus Archiven – nicht zuletzt aus dem großartigen Tagebucharchiv in Emmendingen, dessen Leiterinnen der Autor im Nachwort gesondert dankt. Hineingesogen in diesen Stimmenstrudel fühlt man sie wie mitten im Geschehen. Allein die polyphonen Schilderungen des Münchner Abkommens, bei dem Chamberlain – der Architekt der Appeasement-Politik – Hitler bei der Annexion des Sudetenlands unterstützt, um einen Krieg in Europa abzuwenden, lesen wir in der momentanen Situation, wo abermals ein Land von seinem Nachbarland brutal überfallen wird, mit anderen Augen als noch vor wenigen Monaten. Auch wenn sich geschichtliche Ereignisse nie eins zu eins gleichsetzen lassen, können wir Hitlers Rechtfertigungs-Rede für den Einmarsch in die Tschechoslowakei 1939 nicht lesen, ohne an Putin zu denken, der sich davon bis in einzelne Formulierungen einiges abgeschaut zu haben scheint. Durch dieses Buch, das bereits 2019 erschienen ist, hallen Stimmen und Stimmungen aus der damaligen Zeit so unmittelbar zu uns herüber, dass man auch eine ganze Menge über uns selbst und die heutige Situation zu erfahren meint.«
Theresia Walser
…geboren 1967, ist Dramatikerin. Die jüngste Tochter des Schriftstellers Martin Walser absolvierte zunächst eine Ausbildung zur Altenpflegerin, dann studierte sie Schauspiel an der Hochschule für Musik und Theater Bern. Im Mai wurde ihr neues Stück »Kängurus am Pool« uraufgeführt. Bei den 47. Mülheimer Theatertagen war sie Teil der Jury für den KinderStückePreis.
Lukas Bärfuss empfiehlt:
»Über die Demokratie in Amerika« von Alexis de Toqueville (bei Reclam)
»The Spaniards were unable to exterminate the Indian race by those unparalleled atrocities which brand them with indelible shame, nor did they even succeed in wholly depriving it of its rights; but the Americans of the United States have accomplished this twofold purpose with singular felicity; tranquilly, legally, philanthropically, without shedding blood, and without violating a single great principle of morality in the eyes of the world. It is impossible to destroy men with more respect for the laws of humanity.«
»Sie sind von Alexis de Toqueville, jedenfalls muss ich das annehmen, denn begegnet bin ich ihnen in einem Band der Norton Anthology, deren Qualitäten ich nicht genug loben kann. Leider war man in diesem Fall redaktionell nachlässig und vergass den bibliografischen Hinweis. Das französische Original habe ich bisher nicht ausfindig gemacht, und auch in meiner deutschsprachigen Reclam-Ausgabe konnte ich die entsprechende Stelle nicht festmachen. Ich gebe zu: mit großem Nachdruck habe ich nicht gesucht – wer will es mir verargen, wenn man annehmen muss, es stünden da noch andere, vielleicht noch fürchterliche Einsichten. Dieser Beleg reicht mir fürs Erste, ich kaue täglich daran. Das liegt an einer Linie, die meine Vorstellungskraft von diesem Franzosen der Restauration in das 20. Jahrhundert zieht, an einen Ort in Osteuropa, ich kann nicht mehr genau sagen, wo er sich genau befindet, in Polen, in Belarus, in der Ukraine, in Russland vielleicht. Es sind die Zeilen eines Mörders, die ich hier nur paraphrasiere, ein Mörder, der seinen Mordkumpanen nach einem Massaker eine Predigt hält, eine genozidale Erbauungsrede, in der er betont, wie groß es sei, dies alles getan zu haben und dabei anständig geblieben zu sein. Der Massenmord als Notwendigkeit gesehen, die man so oder so angehen kann, anständig oder nicht, menschlich oder nicht, zivilisiert oder nicht – diese perverse Vorstellung hat ein Mensch des 19. Jahrhunderts bereits vorgeformt. Ich bin nicht sicher, ob sich daraus eine Lektüreempfehlung für Alexis de Toqueville begründen lässt. Die Bücher fallen, wie sie wollen, sie legen Stricke aus, an denen wir uns halten, in denen wir uns verfangen.«
Lukas Bärfuss
…kam 1971 in Thun/Schweiz zur Welt und ist Schriftsteller, Bühnenautor, Theaterregisseur und Dramaturg. 2019 bekam er für seine Dramen, Romane und Essays den Georg-Büchner-Preis. Bei der Ruhrtriennale verantwortet er das Literaturprogramm, unter anderem mit der Veranstaltungsreihe »Die Natur des Menschen«.