TEXT: ANDREAS WILINK
Stellen wir uns eine Hollywood-Produktion vor. Nehmen wir einen gediegen guten Film wie Robert Bentons »Kramer gegen Kramer« mit Dustin Hoffman und Meryl Streep. Auch wenn darin ein Scheidungsfall mit all seinen Konsequenzen für Alltag, Beruf, Privatleben und seelisches Befinden geschildert wird, bleibt doch der Unterhaltungsaspekt im Vordergrund: im Flirt mit der Kamera, mit seinen dramaturgischen Kniffs, der raffinierten Emotionalisierung, dem Entertainment der Stars, dem Pathos der Musik und der Bilder. Man muss sich das nur mal vor Augen führen, um zu ermessen, was »Nader und Simin« alles unterlässt und stattdessen tut
Dokumente liegen unter einem Kopierer und werden vervielfältigt. Das ist der Anfang. Papierkrieg – für den Termin beim Scheidungsrichter. Ein Mann und eine Frau wünschen die Scheidung. Warum? Sie will ins Ausland, er will bleiben. Der Ausreiseantrag wurde bewilligt, ein Visum ausgestellt. Er will seinen an Demenz erkrankten Vater nicht allein lassen. Sie will die Tochter »unter diesen Umständen« nicht aufwachsen lassen. Das Nachhaken des Beamten, welche Umstände gemeint seien, bleibt unbeantwortet.
Der iranische Regisseur Asghar Farhadi versteht es meisterhaft, Dinge in der Schwebe zu halten, soziale Sprengsätze zu legen, aber nicht zu zündeln, an Grundfesten zu rütteln, ohne den Einsturz des Systems zu provozieren. »Nader und Simin«, verdientermaßen ausgezeichnet mit dem Goldenen und (für das exzellente Ensemble) mit zwei Silbernen Berlinale-Bären 2011, ist die mit größter Sorgfalt unternommene, ungemein subtile Vivisektion einer Trennung und ihrer fürchterlichen Folgen für zwei Familien, eingebunden in das politische, ökonomische, soziale und religiöse Ganze – und damit zur Parabel gesteigert. Man kann kaum glauben, dass dieser Film gedreht wurde und dass er außer Landes gelangte. Und ist überwältigt von seiner Intelligenz, Kühnheit, analytischen Klarheit und sittlichen Reife.
Simin (Leila Hatami) zieht zu ihren Eltern, Tochter Termeh (Sarina Farhadi) entschließt sich vorläufig, beim Vater zu bleiben. Nader (Peyman Moadi) stellt eine Frau an, die sich tagsüber um den Haushalt und die Versorgung des hilflosen Patienten kümmern soll. Doch die strenggläubige Muslimin Razieh (Sareh Bayat) dürfte gar nicht in der Wohnung eines fremden Mannes sein und Pflegedienst verrichten, der sie dazu zwingt, den Kranken womöglich nackt sehen zu müssen. Ihrem Mann Hodjat (Shahab Hosseini) verschweigt sie die moralisch unreine Arbeit, die sie aus mate-rieller Not annimmt. Zudem ist sie mit einem zweiten Kind schwanger. Das ohnehin labile Konstrukt bricht entzwei, als Nader bemerkt, dass Razieh fahrlässig seinen Vater allein gelassen und womöglich Geld ge-stohlen hat. Wütend wirft er sie raus. Sie gibt vor, draußen vor der Tür die Treppe herab gestürzt zu sein – im Krankenhaus erleidet sie eine Fehlgeburt. Ihr Mann Hodjat ist außer sich, verklagt Nader, bedroht seine Familie, fordert Blutgeld. Man trifft sich vor Gericht.
Das Verschulden, das verhandelt wird, ist juristisch kaum zu fassen, sondern entsteht aus einem komplexen Geflecht aus Verschweigen, Lüge, Angst, Tabubrüchen und Begriffen wie Scham, Stolz und Ehre. Aus lauter Einzelfäden hat sich ein unlöslicher Knoten gebildet. Farhadi betrachtet die unvermeidliche Tragödie, indem er fein abwägt und jedem Beteiligten verständnisvoll begegnet; er urteilt nicht, er stellt fest, er klagt nicht an, er beklagt. Am Ende muss Termeh entscheiden, bei welchem Elternteil sie künftig leben will. Der Film lässt uns ohne ihre Antwort. Es ist nicht die einzige offene Frage.
»Nader und Simin«; Regie: Asghar Farhadi; Darsteller: Leila Hatami, Peyman Moadi, Shahab Hosseini, Sareh Bayat, Sarina Farhadi; Iran 2011; 123 Min.; Start: 14. Juli 2011.