INTERVIEW: MICHAEL STRUCK-SCHLOEN
Das Bonner Beethovenfest hat 2010 den aus Düsseldorf stammenden Komponisten Peter Ruzicka zum Schutzheiligen der Moderne erkoren. Schon das Festivalmotto »Ins Offene«, ein Zitat aus Hölderlins Elegie »Der Gang aufs Land«, bezieht sich auf ein Werk Ruzickas für 22 Streicher, das den Dichter zum Kronzeugen für das bleibende Vertrauen auf Utopie bestimmt. Ruzicka hält die Musik auch in einer von Gewalt und zersplitterter Wahrnehmung geprägten Welt für stark genug, eine Wahrheit zu verkünden: Seine beiden Hauptwerke, die Opern über Celan und Hölderlin, künden davon. In vier Konzerten tritt er in Bonn als »Composer und Artist (sprich: Dirigent) in Residence« auf, dirigiert Beethovens Neunte und eigene Werke wie die Uraufführung des Cellokonzerts »… Über die Grenze …«. In Kammerkonzerten singt Dietrich Henschel Lieder nach Nietzsche und Hölderlin, das Minguet Quartett spielt Streichquartette.
Dabei betrachtet Ruzicka das Komponieren zwar als höchst persönliches, keineswegs aber als sein einziges Metier. Nach einem Studium der Musik- und Rechtswissenschaften promovierte er 1977 über Urheberrechtsfragen, zwei Jahre später übernahm er die Intendanz beim Radio-Symphonie-Orchester Berlin. Nahezu ein Jahrzehnt lang führte er die Geschicke der Hamburgischen Staatsoper, als Nachfolger von Hans Werner Henze kümmert er sich seit 1996 um das Programm (und Überleben) der Münchener Biennale für neues Musiktheater; als Nachfolger Mortiers leitete er 2001 bis 2006 die Salzburger Festspiele.
K.WEST: Sie haben Theater- und Musikwissenschaft, aber auch Jura und Betriebswirtschaft studiert. Ahnten Sie schon, dass Sie das einmal für Ihre Funktion als Intendant und Festspiel-leiter brauchen könnten?
RUZICKA: Die ursprüngliche Vorstellung war, als freiberuflicher Komponist das Leben zu gestalten. Ich habe aber nach einiger Zeit gemerkt, dass die Gesellschaft diese Form der Selbstverwirklichung kaum erlaubt. Also kam mit einem zunehmenden Interesse an Fragen der gesellschaftlichen Orientierung – das war ja eine Zeit, in der das Wort »hinterfragen« eine große Rolle spielte – noch ein Jurastudium dazu. Aus diesen Koordinaten hat sich dann die Tätigkeit als Programmgestalter und Intendant ergeben.
K.WEST: Der Komponist Rolf Liebermann hat als Intendant der Hamburgischen Staatsoper gesagt, er »lasse jetzt komponieren«. Haben Sie sich auch als Ermöglicher des Neuen verstanden?
RUZICKA: Das schon, aber ich wollte, anders als Liebermann, durchaus selbst komponieren. Aber das Kulturmanagement kostete letztlich so viel Zeit, dass für die Freiräume, die man unbedingt braucht als Komponist, immer weniger blieb. In der Salzburger Zeit sind ganze drei Werke entstanden, und ich habe gemerkt, dass auch das Handwerk nach so langer Abstinenz zurückgeht. Da war eine Lebensentscheidung zu treffen: Wohin soll es eigentlich gehen, was ist das Entscheidende? Jetzt, nachdem ich Salzburg abgegeben habe, ist eigentlich die ursprüngliche Identität wieder hergestellt. Jetzt fühle ich mich primär als schöpferisch tätiger Künstler, als Komponist, der auch gleichgewichtig dirigiert.
K.WEST: Es gibt in Ihrer Biografie und in Ihrem Werk Fixsterne, die keineswegs nur Komponisten sein müssen …
RUZICKA: Natürlich gab es Gustav Mahler, Anton Webern oder Henze als wesentliche Erfahrungen. Aber es kamen auch wichtige Im-pulse von außen, vom Literarischen her. Paul Celan war so eine Begegnung, die eine eminente musikalische Orientierung freigesetzt hat. Hölderlin war dann noch später eine wichtige Wegmarke. Also hatte das zu tun mit einer Transmission zwischen Literatur und Musik, denn beide, Celan wie Hölderlin, haben in ihren Werken ja genuin musikalische Parameter angelegt.
K.WEST: In welcher Hinsicht?
RUZICKA: Wenn Sie bei Celan ein Gedicht lesen, werden Sie schon im Zeilenfall, in Momenten eines optisch sichtbaren Pausierens fest-stellen, dass hier eine innere Rhythmik besteht, dass die Texte gleichsam Schatten werfen in eine Zone, die man eigentlich nur musikalisch deuten kann. Bei den ganz späten, erst nach seinem Tod veröffentlichten Gedichten gibt die Sprache Freiheiten, musikalische Schichten hinzu zu erfinden, die das Ganze dann in einen neuen Aggregatzustand bringen.
K.WEST: Es wird beim Beethovenfest ein Fragment für Streichquartett aufgeführt, das unter dem Eindruck von Celans Tod entstand und sich auf ein Gespräch bezieht, das Sie kurz vor seinem Tod mit ihm geführt haben. Was hat der Mensch Paul Celan für Sie bedeutet?
RUZICKA: Er ist für mich vor allen Dingen ein Geschichtsschreiber des 20. Jahrhunderts gewesen: der Wunden und Erschütterungen, die ihn geprägt haben. In der Begegnung mit ihm war Fragendes und Suchendes. Wie ein Parsifal bin ich nach Paris gekommen, nichts ahnend über den Zustand, in dem er sich befand. Diese sehr einsame Situation in seiner Wohnung, wo alles leer geräumt war, kein einziges Buch mehr in den Regalen. Da hatte er sich, wie man jetzt weiß, gerade ein letztes Mal getrennt von seiner Familie und war kaum bei sich. Er hat auf jede Frage ausweichend reagiert, nach Draußen geschaut auf die Seine, und es war meinerseits die Verzweiflung eines Dialogs, der nicht zustande kommen wollte. Ich bin dann verstört und für den Rest meines Lebens geprägt wieder fortgegangen.
K.WEST: Der andere literarische Fixstern in Ihrer Musik ist Friedrich Hölderlin, auf den sich in Bonn zwei Werke beziehen; Ihre jüngste Oper trägt den Titel »Hölderlin«. War das im Gegensatz zu Celan eher eine späte Liebe?
RUZICKA: Eigentlich ist sie aus der Beschäftigung mit Celan erwachsen. Das letzte Buch, das Celan gelesen hat, war die Hölderlin-Biografie von Wilhelm Michel, aufgeschlagen an einer ganz signifikanten Seite, wo es um den Tod ging. Da war Hölderlin für mich immer eine logische Fortsetzung.
K.WEST: Luigi Nono hat als Inspiration für sein Streichquartett die Frankfurter Hölderlin-Ausgabe benutzt, in der die Fragmente und Versuche des Dichters nicht durch einheitliche Fassungen übertüncht werden. War diese Ausgabe auch für Sie wichtig?
RUZICKA: Schauen Sie sich den Text »Mnemosyne« im Faksimile an: Das ist in mehreren Schichten notiert; er ist immer wieder darange-gangen, hat Einfügungen gemacht, schwer zu dechiffrieren, sehr dunkel, manchmal auch Sätze, die sich grammatikalisch oder semantisch aus dem herkömmlichen Verständnis von Zusammenhang lösen. Mein sechstes Streichquartett mit dem Hölderlin-Text ist nach der Oper »Hölderlin« entstanden, »Ins Offene« unmittelbar davor. Ich habe immer versucht, mir vor Beginn dieses Riesenkomplexes Oper das musikali-sche Koordinatensystem soweit zu ordnen, dass ich nicht am Punkt Null anzufangen hatte, sondern dass die Welt und der Eigenklang der Oper schon gegenwärtig waren.
K.WEST: Im Zentrum Ihres Engagement beim Beethovenfest steht die Uraufführung eines Cellokonzerts mit dem Titel »Über die Grenze«.
RUZICKA: Dieses Stück ist eigentlich eine Art Vor-Echo einer dritten Oper, die sich um Jenseitiges bewegen wird, die versuchen wird, Grenzüberschreitungen möglich zu machen.
K.WEST: Wird es wieder um eine konkrete Person gehen?
RUZICKA: Nein, hier geht es um Grenzbereiche zwischen Leben und Tod, um Gespräche mit Personen, die nach ihren Nah-Tod-Erfahrungen das Rückspulen des Lebensfilms beschrieben haben. Mich hat sehr gereizt, solche Grenzüberschreitungen zu imaginieren durch eine musikalische Zweisprachigkeit, die ich erfinden muss – eine irreale und eine gegenwärtige. Das klingt sehr theoretisch, aber ich hoffe, dass sich beim Anhören des Cellokonzerts, das knapp eine hal-be Stunde dauert, mitteilen wird, dass da zwei Sprachen am Werk sind.
Konzerte von und mit Peter Ruzicka in Bonn: 15., 18., 19. und 30. September 2010; www.beethovenfest.de