»Zentrum für Kunst und Kreativität« heißt es jetzt, das Dortmunder U, Zentralgebäude der ehemaligen Union-Brauerei und, neben der Zeche Zollverein, zweites Großwahrzeichen des gewandelten Ruhrgebiets. Ein etwas schräges Etikett ist dies, so als sei Kunst nicht eo ipso kreativ und benötige der Ergänzung durch jene, die das Kreative ostentativ im Firmenschild führen. Doch einerlei. Das U ist begriffliche Widersprüche gewohnt; schließlich wurde es 1928 als »Kellereihochhaus« gebaut: Durch die Kältemaschinen konnte der »Keller« aus der Tiefe in die obersten Stockwerke aufsteigen, wo seither das Bier nicht nur gärte, sondern auch lagernd zu besserem Geschmack heranreifte.
Fernab vom Ostwall
Beim neuen U wird es mit dem Reifen noch eine Weile dauern; im Mai werden nur die ersten Zutaten für den kreativen Gärungsprozess gemischt. Beim Umbau 2009 hat sich nämlich herausgestellt, dass der Turm in schlechterem Zustand war als gedacht. Der zusätzlich verbaute Beton muss nun erst trocknen, ehe im Herbst das Dortmunder Kunst-»Museum am Ostwall« die vierte und fünfte Etage des U beziehen und die sechste mit der ersten Wechselausstellung bespielen kann. Womit dem U dann ein weiteres sprachliches Paradoxon beschert ist: Im Keller, der ein Hochhaus ist, residiert ein »Museum am Ostwall«, das nicht mehr am Ostwall liegt.
Synergien schaffen
Während das Kunstinstitut mit seinen klimaempfindlichen Exponaten noch warten muss, können andere schon einziehen – so der »Hartware Medienkunst Verein«, dazu eine Dependance des Linzer »Ars Electronica Center«, Adolf Winkelmanns »Institut für Bewegtbildmedien«, Abteilungen der Dortmunder TU, der FH und des Fraunhofer-Instituts. »Hartware« hat schon 1998 eine Ausstellung im leeren U gezeigt und knüpft jetzt mit der Schau »Agents & Provocateurs« daran an. Wie die Mieter unter Leitung des Braumeisters oder »Intendanten« Andreas Broeckmann miteinander agieren, ob die viel beschworenen »Synergien« zwischen Kunst und, sagen wir: anderen Kreativen entstehen, wird sich weisen.
»Mein Großvater hat erzählt, dass da oben ein Glöckner wohnt.«
Adolf Winkelmann über den Turm des Dortmunder U
Den größten Auftritt hat zunächst der Filmemacher Adolf Winkelmann. Man hat ihn gefragt, ob ihm etwas einfallen würde zur Inszenierung des U. »Na klar«, hat Winkelmann da gesagt. Er sei schließlich direkt neben dem Bau aufgewachsen: »Rheinische Straße 38!« Da gab es (bis 1968) zwar noch kein U auf dem Dach des Hochhauses, aber auch so war es für Winkelmann »ein aufregender Ort«; besonders der zweistufige, schmückende Aufsatz: »Mein Großvater hat erzählt, dass da oben ein Glöckner wohnt.« Aus diesem Dachaufsatz leuchten nun Winkelmanns »Fliegende Bilder« – vom 28. Mai an, 21.15 Uhr. Zur »blauen Stunde«, sagt der Regisseur, »an dem Tag geht in Dortmund die Sonne um 21.33 Uhr unter«.
Porträts von Brieftauben
Unter Fachleuten heißt es »Medienfassade«, was Winkelmann am U installiert. In die offenen Fenster des Turmaufsatzes werden LED-Jalousien eingebaut, die auf Entfernung als Bildschirm wirken – insgesamt 600 Quadratmeter, mal als Einzelbilder geschaltet, mal zusammenhängend. Übrigens nicht nonstop, »ich will das nicht inflationieren«. Neben eigens produzierten Filmsequenzen – Panoramen zum Beispiel, Porträts von Brieftauben, bewegtes Wasser – möchte Winkelmann in den oberen Etagen eine digitale Uhr erscheinen lassen.
Noch einiges zu tüfteln
Auch über elektronische Verbindungen zum nahen Hauptbahnhof denkt Winkelmann nach – zum Beispiel, dass am Turm etwas passiert, wenn nebenan ein ICE einfährt. Er wünscht sich den Turm »personalisiert«; das U solle gewissermaßen »Hallo sagen«, und das sei, à la longue, wörtlich gemeint: Der Turm soll sprechen lernen. Winkelmann denkt daran, den Ton zu seinen Filmsequenzen in die Smartphones interessierter Passanten spielen zu lassen. Da gebe es noch einiges zu tüfteln, aber »wir sind nahe dran«.
Reines Ruhrgebiet
Auch im Inneren des U ist Winkelmann mit seinen »fliegenden Bildern« präsent. Auf elf großen Bildschirmen im Foyer zeigt er zweierlei Panoramen. Das eine sind bewegte, assoziative und subjektive Filme von Orten, die Winkelmann als typisch für das Ruhrgebiet ansieht: aus einem riesigen Warenlager etwa, aus einer Brauerei, einer Müllsortieranlage, dem Inneren eines Windrades. Das andere sind ruhige, kontemplative Rundumschwenks ohne weitere Dramaturgie. Reines Ruhrgebiet.
Schließlich bespielt Winkelmann eine große, helle Wand, die im neuen Treppenhaus über alle Etagen geht. Da macht der Regisseur richtig Kino. Wobei die Aufgabenstellung schwierig war, sagt er: Das Publikum komme ja meist nicht, um Filme zu sehen, sondern um irgendetwas anderes zu tun im U. Im Prinzip also »belästige« er die Leute erst mal. »Was zeig’ ich denen?« Er habe dem allgemeinen »Bildersumpf« keine weiteren Banalitäten hinzufügen wollen, sondern etwas, »das Aufmerksamkeit verdient«. Es ist ihm geglückt.
Blick auf fremde Fenster
Zahlreiche Filme für diese »Leinwand« spielen mit dem voyeuristischen Blick auf fremde Fenster. Meist sind es neun, drei mal drei, hinter denen sich gleichzeitig ganz verschiedene, mit Schauspielern gedrehte Szenen abspielen. Hier wird diskutiert, da gezankt, dort Musik gespielt, eine Fremdsprache gelernt. Oder ein Monolog gehalten. Man kann kaum entscheiden, worauf man sich konzentrieren soll. Überdies wird man von den Rolltreppen horizontal und vertikal vor den Bildern bewegt, so dass sich die Perspektive ständig verschiebt. Winkelmann, der in seinem Studio vor dem Modell hin und her geht, sich duckt und wieder aufsteht, verspricht sich positive Dynamik von solchem Perspektivwechsel.
In einem der Neun-Fenster-Filme erzählt Winkelmann ein Erlebnis aus seiner Kindheit in der Rheinischen Straße: Hinter den Fenstern im mittleren Stockwerk hantiert ein Mann mit seinem Gewehr und versucht, seinen todtraurig widerstrebenden Sohn – Adolf Winkelmann selbst – fürs Taubenschießen zu interessieren. »Mittem Schalldämpfer bisse der König«, sagt der Mann und schraubt das Ding wie ein Killer auf sein Gewehr. Spätestens da wird die Szene unheimlich, und sie endet tatsächlich als (erfundener) Albtraum mit einem Knall. Das möchte man eigentlich von Anfang bis Ende sehen. Die ganzen zehn Minuten, ohne von der Rolltreppe davongetragen zu werden. Kann man irgendwo auf einen Knopf drücken und zurückspulen? Sich einen Film aussuchen?
Wie auf der Expo in Hannover
Kann man nicht. Noch nicht. Aber in jedem Fall soll das Repertoire stetig verändert und erweitert werden, »damit man auch beim zehnten Besuch noch etwas Neues erleben kann«. Auch Filme auf Abruf, irgendwie, kann Winkelmann sich dann vorstellen. Ob es überhaupt gelingt, Leute in das Gebäude zu kriegen, »die nicht sowieso in ein Kunstmuseum gehen«, ob er sein »ungefragtes« Publikum mit seinen »Fliegenden Bildern« aus dem Ruhrgebiet tatsächlich fesseln kann, werde sich bald zeigen. Bei einer vergleichbaren Installation zur Hannoveraner Expo 2000 »waren die Leute gar nicht mehr rauszukriegen«. Also – wenn’s künftig im ganzen U so schön gärt und reift wie bei Winkelmann, kann man sich die Kreativwirtschaft schon gefallen lassen.