TEXT: VOLKER K. BELGHAUS
Kommt da noch was, abgesehen von ein paar vereinzelten Rentnern mit Einkaufstaschen? Die Frage stellt sich zwangsläufig, wenn man sich in der Mülheimer Innenstadt ein paar Schritte abseits der Hauptverkehrsstraße in einem ziemlich stillen Wohnviertel wiederfindet. Doch, da kommt noch was. Eine umgebaute ehemalige Lederfabrik mit großen Fensterflächen, grün umrankt – hier lebt und arbeitet der Zeichner Hendrik Dorgathen.
Das Atelier, eine Mischung aus Werkstatt und Büro, wirkt wie ein raum- und realitätgewordenes Skizzenbuch Dorgathens. An der Wand gesammelte Werke wie eine alte Unterrichtskarte aus der Schule, ein von ihm selbst angefertigtes Masken-Objekt aus Kunststofffolie und eine raumhohe Figur aus brauner Pappe im etwas archaischen, typisch kantig-futuristischen Dorgathen-Stil. Neben Flachbildschirmen und Grafik-Pad stapeln sich Bücher (Benn, Lichtenberg, Talebs »Anti-Fragilität«); in Mauernischen stehen kleine Spielzeugfiguren und Spiderman in Absprungpose.
Dorgathen, 1957 in Mülheim an der Ruhr geboren, kurze graue Haare, rollt einen abgewetzten Schreibtischstuhl heran – und wird bei der Nachfrage nach eben jenen Superhelden, nach Science-Fiction und Pop in seinen Arbeiten, sympathisch grundsätzlich: »Ich komme ja eigentlich als Kind aus dem Trash, ich bin mit all dem aufgewachsen, was die Hochkultur hartnäckig seit meiner Kindheit ignoriert hat. Solange das Feuilleton noch eine Macht hatte, war das ein No-Go.«
EIEN ÜBERBLICK VON 45 JAHREN
In Dorgathens zuletzt erschienenen Buch »Holodeck« sind sie dann auch zu finden, die Superhelden, Trickfilmfiguren, Aliens, Knochenmänner, Kampfroboter, Albtraumgestalten. Gezeichnet in verschiedenen Techniken auf verschiedenen Papieren; einmal muss sogar eine rosafarbene »Hello Kitty-Loops«-Packung als Zeichenblock herhalten. »Holodeck« erschien 2012 als ungewöhnlicher Katalog für Dorgathens Ausstellung »Serious Pop« im Kunstmuseum Mülheim und ist eigentlich ein Skizzenbuch. Keine Hochglanzabbildungen der Ausstellung, keine Zeittafeln oder überlang-schlaue Vorworte von Kunsthistorikern, sondern ein sehr offener Blick über einen Zeitraum von 45 Jahren in Herz und Hirn des Zeichners. »Dieses Buch wollte ich seit zehn Jahren machen. Natürlich wollte das kein Verlag haben, weil Skizzenbücher sich wie Blei verkaufen«, sagt Dorgathen. »Für mich ist das jetzt mein Lieblingsbuch.«
Die erste Abbildung zeigt eine Kinderzeichnung vom 6. Februar 1967; eine krakelige, science-fictionartige Figur mit großen Augen, aus deren Helmantennen Blitze schlagen. Blättert man weiter, erkennt man, dass in diesen ersten Zeichnungen interessanterweise schon alles vorhanden ist, was das spätere Werk beeinflusst und geprägt hat. »Erschreckend, was«, lacht Dorgathen. »Aber auch ein großes Glück, dass ich das als Kind für mich entdeckt habe, und dass ich auf dem Stiefel durchgekommen bin. Wenn ich mein Vater gewesen wäre, hätte ich gedacht, was soll aus diesem Spinner werden? Der ist doch nur am Kritzeln und zeichnet dieses komische Zeugs.«
VORBILD CRUMB
Jenes komische Zeugs war von Anfang an da, auch während seines Studiums der Pädagogik und Evangelischen Theologie, das er während der Examenszeit hingeschmissen hat, um dann in Essen Kommunikationsdesign zu studieren. Einer, der ihn mit am meisten geprägt habe, ist der amerikanische Illustrator und Comic-Künstler Robert Crumb. »Crumb war derjenige, bei dem ich zum ersten Mal gemerkt habe, dass man möglicherweise in diesem Medium bleiben und trotzdem erwachsen werden kann. Ich war hier in Mülheim als Dreizehnjähriger bei einem Open-Air-Konzert, wo Leute Raubdrucke aus den USA verkauft haben – da habe ich meinen ersten Crumb-Comic gesehen: ›Bigfoot‹, eine unglaubliche Geschichte! Ich meine, ich hatte Kniestrümpfe an, das war mein erstes Rockkonzert und das erste Mal, das ich mehr als zwei Hippies auf einmal sah! Von da an habe ich völlig anders gezeichnet.«
Als weitere wichtige Einflüsse nennt Dorgathen die Underground-Comics, die Ende der 70er aus Amerika und Frankreich kamen, und den Zeichner Art Spiegelman (»Maus«), den er während seiner Studienzeit einige Male besucht hat, um mit ihm über die eigene Arbeit zu sprechen.
Zu Dorgathens bekanntesten Comics zählt »Space Dog« von 1993 – die Geschichte eines kleinen, roten Hundes mit eckigem Kopf, den es vom engen Bauernhof in die unendlichen Weiten des Weltalls verschlägt. Ein Comic ohne große Worte; statt Buchstaben finden sich Icons in den Sprechblasen. Für den Rowohlt-Verlag illustrierte er u.a. die Cover der Bücher von Paul Auster, und auch in Magazinen wie GEO, in der Zeit, in der FAZ und in der New York Times waren seine Arbeiten zu finden.
GRAPHIC NOVEL ALS OPUS MAGNUM
Seit 2003 ist er Professor für Illustration und Comic an der Kunsthochschule in Kassel und gibt, gemeinsam mit Kai Pfeiffer, regelmäßig das Magazin Triebwerk mit Arbeiten seiner Studenten heraus. Er zeichnet weiterhin, häufig nicht mehr auf Papier, arbeitet an Installationen und Objekten und animiert seine Skizzen und Comics am Computer. So entsteht Raum für Experimente: Dorgathen öffnet einige Dateien und zeigt Ausschnitte des Musikvideos für »Talking in the box« der Mülheimer Band Almost Three. Auch wenn Dorgathen eigentlich vom Techno und der elektronischen Musik kommt – dieses Stück mag er. Lautstarker Blues-Rock ballert los, auf dem Monitor sieht man ein Comic-Raster, das hier aber wie ein Fensterrahmen wirkt, hinter dem sich alles abspielt. Abstrakte Figuren und Sprechblasen, die mit Strichen und Linien gefüllt sind, bewegen sich dahinter im Rhythmus. »Eigentlich sind das ja Acrylbilder, ›Bubbles‹, die auch in meiner Ausstellung zu sehen waren. Dass man die auch animieren könnte – da hab’ ich beim Malen noch nicht drüber nachgedacht.«
Dorgathen stellt die Musik aus und öffnet eine weitere Datei: »Ich schreibe jetzt seit zwei Jahren an einer längeren Graphic-Novel; eine Science-Fiction-Geschichte.« Auf dem Monitor erscheint das Cover zu »Pretty Deep Space«, er klickt sich durch skizzenartige Comicseiten und ganzseitige, kolorierte Weltraum-Dioramen. Manche der Motive aus »Holodeck« finden sich hier wieder, wie die Stadt, deren Wolkenkratzer eigentlich riesige Roboter sind. Für Dorgathen ist der jetzige Zustand immer noch ein grobes Storyboard. »Ich bin jetzt dabei, das letzte Drittel der Geschichte zu schreiben. Das ist eher ein Knochengerüst, das zeigt, wie Text und Bild verteilt werden sollen. Ob das hinterher genauso aussieht, ist höchst fraglich.«
Sieht nach viel Arbeit aus. Und ist es auch – »das wird mich auch noch mal zwei bis drei Jahre kosten. Es ist mit Abstand das dickste Ding, an dem ich je gearbeitet habe!« Dorgathen zündet sich eine Zigarette an, lehnt sich zurück. »Aber in zehn Jahren will ich das nicht mehr machen. In zehn Jahren bin ich in Kassel pensioniert, und wenn ich dann noch lebe, werde ich andere, schöne Dinge machen.«
www.dorgathen.org + www.illuklasse.de. Die Bücher »Holodeck«, »Space Dog« und »Slow« sind im Verlag »Edition Moderne«, Zürich, erschienen.