TEXT: NICOLE STRECKER
Auf zum Psychotrip in die dunklen Kammern des Unterbewussten, in die chaotische Assoziationswelt eines fremden Hirns – ein bisschen Salvador Dalí für den Tanz also von einer Tanzformation aus Herne, das hat Potenzial. 75 Minuten Tanztheater als Höllenschau: Eine Frau, die wie eine dem Wasser entstiegene Ophelia über die Bühne torkelt und ihren Wahnsinn herausschreit. Ein Flaschensammler, der von sich behauptet, ein Wissenschaftler, ein ›Gefühlologe‹ zu sein. Ein anderer, der im schicken Anzug zwar aussieht wie ein Business-Mann, aber brabbelt wie ein Kleinkind. Wer immer an diesem Abend die Bühne der Kammerspiele betritt, ist von guten Geistern längst verlassen. Lauter Durchgeknallte, Verzweifelte, Horrorkreaturen und Outcasts.
Bizarr und auch ein bisschen wüst geht es offenbar zu im Inneren von Choreograf Julio César Iglesias Ungo, der für seine Arbeit mit dem Renegade-Ensemble den Bochumern eigentlich außerkörperliche Erfahrungen nahebringen wollte, nun aber lieber Einblicke ins psychische Gruselkabinett gönnt. »Renegade in Residence« lautet die vor zwei Jahren gefundene Formel, mit der man der Stadt mit dem traditionsreichen Schauspielhaus zu neuem Tanz-Renommee verhelfen will. Einst galt Bochum als eines der nordrheinwestfälischen Tanztheater-Zentren, neun Jahre lang hatte dort die neben Pina Bausch und Susanne Linke dritte Folkwang-Ikone, Reinhild Hoffmann, die Tanzsparte geleitet.
Doch seit der Auflösung ihres Ensembles 1995 gab es für ein tanzinteressiertes Publikum kaum Anlass, in die Ruhrpott-Stadt zu reisen. Bis auf wenige Termine im Jahr. Denn mit Amtsantritt von Intendant Anselm Weber erarbeitet seit 2010 die Street-Dance-Formation Renegade einmal pro Spielzeit eine neue Produktion. Die ersten beiden Male engagierte das vor neun Jahren gegründete Ensemble die Ex-Pina-Bausch-Tänzerin Malou Airaudo als Choreografin: Tanztheater und Breakdance als Fusion – die tatsächlich überzeugt. Denn einhändige Handstände und Headspins eignen sich exzellent dazu, dem Gefühlsüberschwang der Folkwang-Tradition einen rebellischen »Chic« zu verpassen. Während umgekehrt das angeberisch-akrobatische B-Boying endlich eine innere Motivation bekommt: Hier tanzt man verrückt und verruckelt, nicht, weil man zeigen will, was man so drauf hat, sondern, weil Ver-lustängste oder Heimatlosigkeit die Körper in die Selbstverschwendung treiben. Mittlerweile ist die Renegade-Formation eine von sechs spitzengeförderten Kompanien in Nordrheinwestfalen.
An ein expressives Verständnis der Battle-Bewegungen knüpft nun auch Choreograf Iglesias Ungo in den besten Momenten des Abends an – die aber leider selten sind. Denn in seiner radikal subjektiven Fantasie über den Schlaf der Vernunft gilt die Devise: Tollen statt Tanz. Viel Gerenne, wenig choreografisch geformtes Material. Der frühere Performer bei Wim Vandekeybus hat zwar dessen Vorliebe für die tieferen Schichten des Bewusstseins übernommen, allerdings ohne dessen Gabe zu mythischer Überhöhung. Wenn eine Frau im roten Kapuzenmäntelchen wie in »Wenn die Gondeln Trauer tragen« über die Bühne huscht oder der Protagonist in einen Raum mit lauter Falltüren gerät, aus denen Körperteile ragen, mag man sich an diverse Horrorstreifen erinnert fühlen. Letztlich jedoch haben an diesem Abend über emotionale Extremzustände nur wenige Bilder Kraft und Faszination – und jeder bleibt in seinem eigenen Film.
Vorstellungen am 15., 24., 27. Februar 2013. www.schauspielhausbochum.de