Das Festival »Stücke 2021« findet in diesem Jahr weitgehend im Netz statt – und ist so politisch wie selten. Zu sehen sind die sieben für den Stücke-Preis nominierten Inszenierungen in der Zeit vom 13. bis zum 29. Mai als Streams. Nur die »Kinderstücke« sollen live vor Publikum gespielt werden – denn geplant sind die fünf Gastspiele dann für den Herbst 2021. Eine Auswahl.
»Reich des Todes«
Für gut vier Stunden zeigt das Theater noch einmal, was es alles vermag. Karin Beiers am Deutschen Schauspielhaus Hamburg entstandene Uraufführung von Rainald Goetz’ neuem Stück ist ein ungeheurer Kraftakt, eine permanente Grenzüberschreitung. Auf der formalen Ebene mischen sich Schauspiel und Choreografie, Konzert und Film. Aber auch so überschreitet Beier immer wieder Grenzen des auf der Bühne Darstellbaren. Goetz‘ ausuferndes Stück ist eine Reaktion auf die politischen und gesellschaftlichen Folgen der Anschläge vom 11. September 2001. Es spielt in den Vereinigten Staaten, allerdings tragen alle Figuren deutsche Namen. So schlägt der Autor einen kontroversen Bogen von der Bush-Administration zu autoritären Traditionen in Deutschland. Die Provokationen des Textes greift Beier in ihrer überbordenden, auch vor platten Gags nicht zurückscheuenden Inszenierung gezielt auf, bis das Publikum schließlich in den menschlichen Abgrund starrt, den Goetz sprachlich virtuos umkreist.
»9/26 – Das Oktoberfestattentat«
Ein terroristischer Anschlag steht auch im Zentrum von Christine Umpfenbachs Dokumentarstück, dessen Uraufführung die Autorin selbst an den Münchner Kammerspielen inszeniert hat. Der Bombenanschlag, bei dem am 26. September 1980 insgesamt 13 Menschen getötet und 221 teils schwerverletzt wurden, ist so etwas wie ein blinder Fleck in der Geschichte der Bundesrepublik. Dieser von Rechtsradikalen durchgeführte Terrorakt wurde relativ bald wieder aus dem kollektiven Gedächtnis des Landes verdrängt. Gegen dieses Vergessen, das lange mit einer Verharmlosung von rechtem Terror einhergegangen ist, stellt Christine Umpfenbach ihre aus Gesprächen mit überlebenden Opfern hervorgegangene Inszenierung entgegen.
»Stummes Land«
Auf den ersten Blick wirkt Thomas Freyers Stück, das Tilmann Köhler am Staatsschauspiel Dresden uraufgeführt hat, wie ein klassisches Well-Made-Play. Vier Jugendfreunde um die 40 treffen sich nach Jahren erstmals wieder. Doch im Lauf des Treffens offenbaren sich rassistische und nationalistische Haltungen. Damit weitet sich nach und nach auch die Perspektive des Stücks, das schließlich in einem an Heiner Müller erinnernden Textblock gipfelt und zur Abrechnung mit der deutschen Mentalitätsgeschichte wird.
Die dezidiert politische Perspektive der diesjährigen »Stücke«-Auswahl schlägt sich auch in den drei von Autorinnen geschriebenen Werken nieder. Ewelina Benbeneks »Tragödienbastard« (Regie: Florian Fischer; Schauspielhaus Wien), Sibylle Bergs »Und sicher ist mir die Welt verschwunden« (Regie: Sebastian Nübling; Maxim Gorki Theater Berlin) und Rebekka Kricheldorfs »Der goldene Schwanz« (Regie: Schirin Khodadadian; Staatstheater Kassel) erzählen aus weiblicher Perspektive von den Zwängen des Lebens in den angeblichen freiheitlichen westlichen Demokratien. Während Sibylle Berg einmal mehr mit den Auswüchsen des Kapitalismus abrechnet, erzählt Benbeneks semi-autobiografischerText davon, was es heißt, als Kind armer Migranten trotz aller Widerstände dem Milieu der Eltern zu entkommen. Ein Triumph, der zahllose unsichtbare Verletzungen mit sich bringt.
Die genauen Daten der Streams finden sich hier