Auf den 26. April 1564 datiert man Shakespeares Tauftag. Er feiert also 450. Geburtstag. Auf Nordrhein-Westfalens Bühnen gab es immer wieder bedeutende Aufführungen des Dramatikers, zuletzt, 2005, in Düsseldorf den dampfend nackten »Macbeth«, inszeniert von Jürgen Gosch. Das Schauspielhaus Bochum ist traditionell Bühne für Shakespeare: Dort hat u.a. Peter Zadek einen legendären »Kaufmann von Venedig« gezeigt; Frank Patrick-Steckel verabschiedete sich mit einem dunkel grundierten »Hamlet«; Leander Haußmann frischte den Elisabethaner frech auf. In Düsseldorf und Köln hat sich Karin Beier in ihre love affair mit William gestürzt, von einer himmelhoch geschaukelten »Romeo und Julia«, die Baz Luhrmanns Film vorwegnahm, über einen »Europäischen Sommernachtstram« bis zu einem rein weiblich besetzten »Lear«. Wir haben Regisseure, Dramaturgen, Intendanten und eine Schauspielerin gebeten, uns ihren Shakespeare zu beschreiben. | AWI
DER GROSSE HEIDE
VON JOACHIM LUX
Shakespeare ist für mich der größte Dramatiker aller Zeiten, vor Molière, vor Goethe, Schiller, Brecht oder Beckett. Sein einziger Konkurrent: Aischylos. Der ist ebenfalls konkurrenzlos. Er hatte – wie Shakespeare – Begabung und Glück. Das Glück des historischen Augenblicks. Und die Begabung davon zu erzählen: Bei Aischylos ist es in seiner »Orestie« der Übergang vom Matriarchat zum Patriarchat, zum rationalen Staat. Das hat niemand vor oder nach ihm beschrieben.
Warum aber ist Shakespeare so bedeutend? Er ist – wie Aischylos – das historische Gedächtnis der Menschheit in einer Zeitenwende. Bei ihm geben sich zwei Zeitalter, Mittelalter und Neuzeit, die Hand. Er weist mit seinen Texten 500 Jahre zurück und 500 Jahre in die Zukunft. Einerseits ist er Kind der Renaissance: Hier entsteht die stolze Erhabenheit des sich selbst entdeckenden autonomen Subjekts. Es bringt – zeitverschoben – Größen wie Michelangelo, Kepler, Dürer, Galilei, Luther, Kolumbus hervor. Dieses moderne Ich ist stolz auf seine Größe, entdeckt die Welt, zweifelt an der göttlichen Ordnung, entdeckt die Macht der Liebe, die Lust an der Grausamkeit, die Autonomie des Menschen usw. Gleichzeitig aber steht Shakespeare mit mindestens einem Bein im Mittelalter, voll Demut gegenüber der Schöpfung, im Bewusstsein der Endlichkeit menschlichen Strebens.
Und doch ist er kein guter Christ, sondern vor allem ein keltisch-germanischer Heide und Häretiker, dem es eine Lust ist, als wirkungsmächtiger Schauerromantiker aufzutreten, gegen die Herrschaftsideologie des Christentums die heidnischen Geister und Hexen herbeizurufen, Gewitter und Stürme auf der Heide als Inbegriff für die Psychopathologie des Menschen zu inszenieren – lachhaft unaufgeklärte Erzählweisen, die einen Vorteil haben: Jeder versteht sie.
Er zeigt das Chaos in unserer Natur wie kein anderer. Ein Realist der menschlichen Seele und kein Ideologe. Er war ein freier Mensch.
Nein – er war kein freier Mensch. Sondern voll von Obsessionen, besonders zwei: Sex and Crime. In beiden Bereichen geht er über alles hinweg, was der Anstand der heutigen bürgerlichen Zivilisation gebietet. Beim Sex hat er gegenüber den Reglements protestantischer Prüderie rebelliert und Partnertausch wie auch die Kopulation mit einem Esel für darstellenswert gehalten (zu erwähnen, weil die US-amerikanische Prüderie mit ihrer political correctness langsam Europa zu ersticken droht).
Vor allem aber ging es ihm um Crime. Ob er selbst zu Gewalttätigkeit neigte oder ein Hasenfuß war, wir wissen es nicht. Tatsache aber ist, dass er in seinen Königsdramen Tausende von Versen verfasste, die nur den einen Zweck hatten, die Geschichte der Menschheit als unaufhörliche, zwanghafte Kette von Gewalt zu erzählen. Nirgends fließt so viel Blut, nirgends gibt es so viele Tote wie bei Shakespeare. Ein Splattermovie ist nichts dagegen. Die der Renaissance entgegengesetzte Nachricht lautet also: Der Mensch ist nichts wert, ist Objekt und Puppe des Mechanismus. Philosophisch betrachtet, das »Rad der Fortuna« des Mittelalters in seiner düstersten Zwangsläufigkeit. Sind wir Sklaven einer solchen Maschine?
Am Schluss seines Lebens versucht Shakespeare aus diesem System auszubrechen, und schreibt sein Vermächtnis: den »Sturm«. Die Rache Prosperos ist nur noch Spiel, er verzichtet auf ihre Exekution. Er begnadigt. Lange hat Shakespeare gebraucht, um an den Punkt zu kommen, der ihm dann erlaubte, friedlich zu sein und zu sterben. Warum hat er dafür so lange gebraucht und sich abgekämpft? Ein Rätsel, oder auch nicht. Denn die Menschheit laboriert an diesem Phänomen seit Jahrtausenden. »Shakespeare is the happy hunting ground of all that have lost their balance« – so der schönste, gültigste und kürzeste Satz über ihn. Er stammt aus James Joyces »Ulysses« und meint uns alle.
Noch eins: Shakespeare war kein Ideologe, sondern Phänomenologe, ein Realist. In seiner Haltung gegenüber der Welt, auch in seinen künstlerischen Hervorbringungen. Er hat tages-aktuelle Gebrauchsdramatik geschrieben, die Weltliteratur wurde. Er wusste, wofür er schrieb: für das Theater, das monopolitische Medium seiner Zeit. Und er musste wissen, wie etwas funktioniert, wenn er überleben wollte. Er war klug, aber kein Intellektueller. Unser Feuilleton hätte ihn vermutlich vernichtet und nach neuen Avantgarden geschrien. Macht nichts, es ist schon länger auf dem Holzweg. Im übrigen wie das Publikum, das glaubt, die netten Kollegen Schlegel und Tieck seien Shakespeare – auch ein großer Unsinn. Beide erlöst hat, das Publikum und die Kritiker, Peter Zadek. Aber jetzt müsste man vom Gelingen und Scheitern des deutschen Regiebetriebs reden.
Da es aber, bei Shakespeares 450. Geburtstag, um ihn gehen soll, breche ich aus Respekt vor dem Jubilar ab, und bestelle, wie auch schon gedichtet wurde, ein Shakes Bier!
1957 in Münster geboren, kam Joachim Lux als Dramaturg über die Schauspielhäuser in Köln, Düsseldorf und Bremen ans Burgtheater Wien, wo er zehn Jahre lang zur künstlerischen Leitung gehörte. Seit 2009 ist er Intendant des Hamburger Thalia Theaters. Vielfach hat er mit Karin Beier gearbeitet, die jetzt als Intendantin am Deutschen Schauspielhaus mit Lux in produktiven Wettbewerb tritt.
HERR SCHÜTTELSPEER
VON LEANDER HAUSSMANN
Wenn ich heute einen Brief an Shakespeare schreiben wollte und ich würde ihn mit »Lieber Herr Shakespeare« ansprechen, käme ich mir vor wie die Oma, die einen Brief an einen Radiosender mit »Lieber Herr Radio« beginnt. Shakespeare ist ein Programm, das alles beinhaltet, was wir unter Theater verstehen und das seit Jahrhunderten erfolgreich gesendet wird. Nur kennt niemand seine Adresse!
Oma kann ihm also nicht schreiben. Aber warum wissen wir so wenig über einen Mann, der so öffentlich war?
Weil es mehrere und zwar erheblich mehr Autoren waren, die an seinem Werk schrieben? Und zwar in verschiedenen konkurrierenden Companys? War es so, dass man in einem Theater dasselbe Stück als Rachedrama sehen konnte, was in dem anderen als Liebesgeschichte oder woanders als Geister- und Vater-Sohn Geschichte zu sehen war? Ist das, was wir heute als »Hamlet« kennen und uns durchdrungen scheint von genialischer Geheimniskrämerei, weil wir nicht wahrhaben wollen, dass Gott auch Fehler macht, ein Konvolut, gegenseitig gestohlenen geistigen Eigentums? Hat sich daher, möglicherweise der Verleger, der für die erste Quarto-Ausgabe verantwortlich zeichnet, den Namen ausgedacht?
Wilhelm Schüttelspeer – was für ein Quatsch-Name! Das riecht förmlich nach Pseudonym. Unverwechselbar und originell. Man hieß Jonson, Davanent, Peele, Marlow, Nashe, Raleigh oder im besten Fall Massenger. Aber doch nicht Schüttelspeer! Aber, was soll’s. Wenn ich denn eine Frage hätte und das unbedingte Bedürfnis sie zu stellen, würde auch mein Brief mit »Lieber Herr Shakespeare…« beginnen. Weil es einfacher ist. Und mich das Bewusstsein, dass es sich hier um eine tatsächliche Person handelt, davor bewahrt, wahnsinnig zu werden. Und weil das Nachdenken darüber, ob es ihn gab oder nicht, ob er Gott war oder Mensch, oder ein Edelmann, der nicht erkannt werden wollte, genauso sinnlos ist wie die Frage: Wer war Jesus Christus? Shakespeare ist Theater – und daran glaube ich.
Leander Haußmann, Schauspieler, Filmemacher, Autor und Theaterregisseur, ist Jahrgang 1959 und wuchs in der DDR auf. Nach der Wende führte er u.a. Regie am Nationaltheater Weimar. Von 1995 bis 2000 war er Intendant des Schauspielhauses Bochum. Vier seiner Arbeiten, darunter »Ein Sommernachtstraum« und »Romeo und Julia«, wurden zum Berliner Theatertreffen eingeladen. Vor kurzem hat er »Hamlet« am Berliner Ensemble inszeniert.
SCHWEIN UND ESEL
VON ROBERTO CIULLI
In den achtziger Jahren gastierten wir mit unserer Inszenierung von »Ein Sommernachtstraum« in Iserlohn. Wie üblich in den Anfängen des Theaters an der Ruhr war das Publikum sehr gespalten. In der Pause stand ich am Programmhefttisch im Foyer. Eine Zuschauerin erkannte mich und fragte: »Sie sind der Regisseur des Stückes. Ich möchte Ihnen ins Gesicht spucken.«Ein flüchtiger schwarzer Gedanke ging mir durch den Kopf. Ich erinnerte mich an das Theaterstück »Kean oder Unordnung und Genie«, in dem Sartre den Schauspieler Edmund Kean in einer Shakespeare-Rolle einen Zuschauer ermorden ließ. Die Frau bemerkte den Schatten in meinen Augen und entfernte sich. Ich rief ihr nach: »Um Gottes Willen, warum wollen Sie mir ins Gesicht spucken?« Sie: »Sie sind ein Schwein, wie kommen Sie auf die Idee, einen Menschen in einen Esel zu verwandeln.« Da sie sofort ging, konnte ich Shakespeare, dessen Einfall die Verzauberung Zettels war, nicht verpetzen.
Roberto Ciulli, 1934 geboren in Mailand, kam 1964 nach Deutschland, inszenierte u.a. in Köln und Düsseldorf und gründete 1981 mit Helmut Schäfer und Gralf-Edzard Habben in Mülheim das Theater an der Ruhr, das er bis heute wesentlich prägt.
VENUS UND SATURN
VON HANNELORE HOGER
Sein Geist schwebt hell und klar über den Wassern. Der Abend- und der Morgenstern leuchten über ihm: Venus, aber auch Saturn, das Gestirn der Melancholiker, bringen sein Licht zum Strahlen. Die schlimmsten Übersetzungen, die schlimmsten Aufführungen, den größten Blödsinn hat Shakespeare überstanden. Er hat die wunderbarsten Rollen für uns Schauspieler – Männer, Frauen und alles dazwischen – geschrieben. Sein Genie lotet die Tiefe der Welt aus.
Hannelore Hoger, 1942 in Hamburg geboren, wurde u.a. durch Filme von Alexander Kluge bekannt. Die »Schauspielerin des Jahres« 1975 war u.a. in Ulm, Bremen, Stuttgart, Köln, Berlin und Hamburg engagiert. Bei Peter Zadek in Bochum hat sie etwa 1972 Lämmchen in Falladas »Kleiner Mann, was nun?« und 1974 den Narren im »König Lear« gespielt.