TEXT: ULRICH DEUTER
Ein Stauwehr, dessen lange Betonbrüstung; ein wolkenschwerer Himmel. Irgendetwas vermittelt, dass es warm ist, wahrscheinlich die sommerliche Bekleidung der Menschen, die sich über die Balustrade lehnen und hinab schauen in das unsichtbare Tiefe dahinter: zwei Erwachsene, einige Kinder; weitere Menschen im Hintergrund. In die Kamera blickt nur ein einziges Augenpaar, das eines Säuglings, der im Vordergrund, abseits der anderen, in seinem mobilen Laufstall kauert. Was außerdem sichtbar ist auf diesem Foto: sehr viel Zeit.
Zwei junge Männer auf den Stufen eines Gebäudes sitzend, dessen wenige erkennbar Architekturmerkmale imperialen Anspruch formulieren. Hellblau die Hemden, brav die Scheitel, die Jacketts gefaltet auf den Knien – Banknovizen in ihrer Mittagspause. In ihren noch kindlichen Gesichtern hält sich Trotz mit Unsicherheit die Waage, noch hängt der Business-Dress an den schmalen Körpern wie eine Verkleidung, gelang das Krawattenbinden nur halb, mit ihren Hotdogs, die sie dabei sind zu essen, werden sie sich das Jackett beflecken. Und doch dämmert in den Gesichtern eine Zukunft voller Selbstbewusstsein, Erfolg, Geld, Gier.
In Landschaften gedrückte, reizlose Siedlungen; irgendwelche Menschen auf einer gewöhnlichen Straße, wartend; ein lächelnder Mann, ein Baby vor der Brust, je einen Hund in der Hand, auf Beton, vor rostigen Zäunen, vor nichtssagenden Nutzbauten – nach Stephen Shore (in Düsseldorf) und Mitch Epstein (in Bonn) ist ab Ende Juli ein dritter Vertreter der sogenannten New Color Photography in Nordrhein-Westfalen zu entdecken: Joel Sternfeld. 1944 in New York geboren, gehört er wie Shore zur ersten Generation nach William Eggleston, der Mitte der 1970er Jahre der dokumentarischen Farbfotografie zum Durchbruch in den USA verhalf; zehn, 15 Jahre später dann auch in Europa.
Eggleston stellte das Museum Folkwang 1993 vor – mit der ersten europäischen Retrospektive auf Sternfeld nun bleibt die Leiterin der Fotografischen Sammlung, Ute Eskildsen, ihrer Liebe zu Fotografen mit dokumentarischem Anspruch und ausgeprägter Handschrift treu. Beides verkörpert Sternfeld meisterlich: Von Anfang an treibt ihn der Wunsch nach Zeugenschaft auf die Straße, zunächst, in den 1970ern, noch ausgestattet mit einer Kleinbildkamera und in begrenztem Radius; erste Serien wie »Street Works« entstehen (von denen das Folkwang viele erstmals zeigt). Dann reiht Sternfeld sich entschieden in eine Tradition ein, die mit Walker Evans und Dorothea Lange in den 30ern sowie Robert Frank in den 50ern Höhepunkte gefeiert hatte: In einem VW-Bus (auch er!) reist er von 1979 bis 1983 durch Amerika, um, wie jene Pioniere der dokumentarischen Fotografie, eine soziale Reliefkarte seines Landes zu erstellen. Die Serie »American Prospects« entsteht, Bilder von einem halb- oder suburbanen Amerika, einem Land ohne Schönheit, aber mit sehr viel Zeit, mit Menschen, die einer nicht zu bewältigenden Weite trotzen. Die eine sonderbare Lakonie ausstrahlen; wenn nicht die Umgebung selbst, die nie frei von menschlichem Eintrag erscheint, diese stoische Unerschütterlichkeit besitzt. Ein Erdrutsch hat ein Auto mitgerissen; die Bungalows ringsum sind sichtlich ungerührt. Der Dachstuhl eines Hauses brennt; ein Feuerwehrmann prüft an einem Kürbisstand unweit die beste Frucht. Ein Space Shuttle wird auf dem Rücken eines Jumbo-Jets transportiert; die Menschen stehen da, als sei dies nicht das eigentliche Schauspiel. Aufgenommen sind diese Bilder jetzt mit einer Mittel- und Großformatkamera, als Hauptform der Veröffentlichung wählt Sternberg das Fotobuch; »American Prospects« bringt ihm den Durchbruch.
Fotobücher bleiben für Sternfeld wichtig, er ediert sie selbst, sie bieten ihm die Möglichkeit, seine Arbeiten schon früh im großen Format zu zeigen; auch – gibt die Kuratorin Eskildsen zu bedenken – existieren in jenen Jahren prominente Fotoausstellungen in Museen noch kaum. 1987 setzt Joel Sternfeld seine Kartierung des sozialen Amerika fort, der Fokus verschiebt sich näher hin zu den Menschen: Waren es zuvor menschengemachte Szenerien, in denen (meist) Menschen vorkamen, so geht der Blick jetzt von den Menschen aus, isoliert sie aber nie aus ihrer Umgebung. Die neue Serie heißt »Stranger Passing« und wird 2000 abgeschlossen, ausdrücklich bezieht sich der Amerikaner dabei auf den Deutschen August Sander und seine »Menschen des 20. Jahrhunderts«. Doch fehlt Sternfelds »Fremden« das Typische der Sander-Menschen, »Stranger Passing« macht je Einzelne stark, in einer Umgebung, die sie stützt; darum wählt Sternfeld (auch hier anders als Sander) fast immer das Querformat. Auffallend ist, wie stark die Fotografierten stets das Zentrum des Bildes ausmachen, selbst wenn sie aus der Mitte oder nach hinten gerückt sind – Beweis für den Psychologen im Fotografen. Kompositorisch erlebt man dies als eine sich leise bewegende Dynamik, in die die Person eingebettet ist. Diese Bilder sind keine Schnappschüsse (wie überhaupt das Beiläufige in dieser Serie noch weiter zurückgeht) und sind doch nicht arrangiert: Sternfeld fotografiert an Ort und Stelle dessen, was ihm begegnet.
Und es begegnen ihm Menschen aus vielen Schichten der Gesellschaft, vielleicht mit Ausnahme der obersten: die Hausfrau in ihrer bunten Fadheit; der Truck-Pilot, der sein Fahrzeug an Massigkeit zu übertrumpfen sucht; der Einkaufswagensammler, dessen Kleidung so zerstreut ist wie seine Drahtschäfchen auf dem leeren Parkplatz. Ein jeder kraftvoll mit der Verwirklichung seiner kleinen privaten Utopie befasst, auch wenn sie aus einem Nostalgie-Motorrad mit Beiwagen besteht. Sternfeld ist hier eindeutig am Uneleganten, Halbgelungenen interessiert, am Komischen auch, was ihn ebenfalls in die Nähe von Robert Frank und »The Americans« rückt. »Stranger Passing« sei scharf in der Auswahl der Motive, aber menschlich in der Darstellung, meint Eskildsen; und nie geraten selbst die komischsten Typen zur Karikatur.
»American Prospects« und »Stranger Passing« sind wohl die stärksten Komplexe im Werk Sternfelds; danach probiert der Fotograf zwei Mal einen dezidiert konzeptuellen Ansatz, was weniger seine Stärke ist: Für »On This Site« (1993–1996) bildet er Tatorte ab, jedoch weit nach dem Verbrechen, wodurch zwischen Abbild und Geschichte des Ortes eine Diskrepanz entsteht, die ein erklärender Text wieder aufhebt – Ausdruck und Beweis der Grenzen des Bildnerischen und insofern wenig originell. Ähnliches bei »Sweet Earth – Experimental Utopias in America« (1993–2005), das Überreste von Orten idealer Gemeinschaften zeigt, von denen es in Amerika seit dem 19. Jahrhundert unzählige gab. Doch während bei den Tatorten der Text erklärt, belehrt er hier. Das Foto wird zur Bebilderung.
Joel Sternfeld ist vielleicht der politischste der New Color-Fotografen; seine den G8-Gipfel in Genua sowie die Klimakonferenz in Montreal begleitenden Projekte offenbaren dies ganz ungeschminkt. Sternfelds jüngste Serie ist dies auch, politisch, kommt dabei aber ganz ohne Menschen aus: Das »Oxbow Archive«, aus Sorge über das Weltklima entstanden, dokumentiert über ein Jahr hin einen kleinen Landstrich in einer Flussschleife des Connecticut River in Massachusetts, spektakuläre und unspektakuläre Natur als Landschaftsaufnahmen von geradezu klassischer Prägung und im Mega-Format: schwer, satt, des Menschen nicht bedürftig.
»Joel Sternfeld – Farbfotografie seit 1970« mit rund 130 Fotografien und zwei Projektionen; Museum Folkang. 16. Juli bis 23. Okt. 2011. Tel.: 0201/8845 000. www.museum-folkwang.de