Ein Tänzerleben besteht aus viel Bewegung, nicht nur auf der Bühne und im Probenstudio. Um zu lernen, zu studieren und dann Engagements zu finden, bereisen Tänzer heute die ganze Welt. Deutschland bietet vergleichsweise viele Arbeitsmöglichkeiten in seinen Stadttheaterkompanien; mal abgesehen von Kurzzeitjobs in der Freien Szene. Die Ensembles an Mehrspartenhäusern haben für ihre Tänzerstellen eine riesige Auswahl an Bewerbern, die von überall her anreisen. Es sind kleine Globalisierungsklumpen. Die Lingua franca ist meist Englisch, das »Ballett am Rhein Düsseldorf/Duisburg« bildet keine Ausnahme. Auch wenn Chefchoreograf Martin Schläpfer während einer Probe mit einer Schweizer Tänzerin schon mal auf Schweizerdeutsch spricht, kurze Phrasen Hochdeutsch einstreut und die Basis-Begrifflichkeit des Balletts bekanntlich französisch ist.
Camille Andriot und Sonny Locsin kannten Schläpfers Arbeit noch vor Jahren nur vom Hörensagen. Richtig weltberühmt ist Martin Schläpfer zwar noch nicht; mit dem »ballettmainz« ging er ein paarmal auf Gastspielreisen, und das Touren mit seinem »Ballett am Rhein« begann kürzlich in Amsterdam, es folgen Köln, Brünn, Gütersloh. Heute sind beide Tänzer sichtlich froh, in diesem ziemlich speziellen Ensemble gelandet zu sein, das nicht auf Uniformität, nicht auf Solisten vor einem dekorativ bewegten menschlichen Hintergrund und auch nicht auf Märchenrollenverteilung setzt, sondern auf Persönlichkeiten – soweit ein Ensemble dieser Größe und der Spielplan das zulassen.
Für Camille Andriot begann die Arbeit mit Schläpfer 2004 in Mainz. Sie entschied sich dann, wie fast alle ihre Kollegen des damals bloß zwanzigköpfigen Ensembles, 2009 mit ihm nach Düsseldorf/Duisburg zu gehen. Sonny Locsin wiederum hatte dort fünf Jahre lang mit Ballettdirektor Youri Vàmos gearbeitet, bewarb sich bei dem Neuen und konnte bleiben.
Locsin mochte die Arbeit mit Vàmos. Die Umstellung auf Schläpfer war kein Problem. Schnelle Anpassung hatte er jahrelang geradezu planvoll gelernt. Einmal hatte er sogar mit dem Gedanken gespielt, sich nach Mainz zu bewerben, bis er hörte, dass Schläpfer reife Tänzer suchte. So weit fühlte er sich noch nicht. Jetzt, sagt er, sei es perfekt. Vergleichen will er die beiden Choreografen Vàmos und Schläpfer nicht, ihre sehr unterschiedliche Ästhetik, ihre sehr verschiedenen Weisen, Ballette zu machen.
In knapp bemessenen Sätzen, auf Englisch, erzählt der 32-jährige Locsin von seinem Weg zum »Ballett am Rhein«. Seine Diktion klingt ein wenig nach Schläpfer. Nur wenn es um seine Familie in der Heimat geht, schweift er ein wenig aus. »Ich bin ein stolzer Philippino«, sagt er und wirkt wie ein vernünftiger, aufgeräumter Typ mit einer Begabung zum Sonnenschein. Auf der Bühne ist Locsin nicht der Vorangeher, der Auffällige, Dramatische, auch nicht der Scheue, Blasse, sondern wird sichtbar als einer, der zwischen schwer und leicht eine Balance findet, was ein immenses tänzerisches Können voraussetzt.
Er fügt sich ins Ensemble, fiel aber letztes Jahr in Hans van Manens »Solo« (1997), Teil des Programms »b.08«, als einer der drei solistisch verwirbelten Männer auf. Zu Bachs Partita Nr. 1 für Violine bestand er einen Wettlauf mit der Zeit, die choreografierte energische Unruhe oder Richtungslosigkeit mit ihren vielen Pirouetten. Im »Deutschen Requiem« in »b.09« von Martin Schläpfer zum Werk von Brahms ist Sonny Locsin einer der Männer, die auf die Bühne stürmen, als im zweiten, langsamen Satz der Chor einsetzt: »Denn alles Fleisch, es ist wie Gras«. Vor Ergriffenheit stellen sich dem Zuhörer die Nackenhaare auf, doch diese Herren purzeln unisono kopfüber durch die Luft, rollen ab, wenden, schnappen ins Leere, landen auf den Händen, wenden wieder; die runden Rücken am Boden, schwingen sie die Beine in die »Kerze«, in die Höhe, und die Füße flattern, als wollten sie den Himmel kitzeln.
»It’s fun« – so beschreibt Locsin die Arbeit mit Martin Schläpfer. Er ist angekommen. »Ich bin jetzt glücklich, an einem Ort bleiben zu können«. Vorher war er Nomade, ein Sammler. »Um Tänzer zu werden, dachte ich, müsste ich so viele Stile oder Genres wie möglich kennen lernen.« Er wollte später nicht um verpasste Chancen trauern müssen. Seine Mutter ist Choreografin, die Großmutter besaß ein Ballettstudio in Davao City auf Mindanao. Locsin wurde wie seine vier Geschwister und alle seine Cousins dorthin geschickt. Disziplin, Körper, Haltung, das würde ihm gut tun und später, in welchem Beruf auch immer, helfen, meinten Mutter und Tante. Als Dreijähriger lernte er Stepptanz, später dann Ballett. Der Rest der Familie gab irgendwann auf. Locsin aber machte weiter und war der einzige tanzende Junge weit und breit. Einfach war das nicht. »Aber ich kam nie an den Punkt, dass ich mich hätte entscheiden müssen. Ich habe einfach weitergemacht. Going with the flow. Und hier bin ich!« Er strahlt.
Mit einem Stipendium wurde er an eine Schule in Manila geschickt. Da gab es Jungs, das spornte ihn an. Ein Jahr Studium in San Francisco, wo noch größerer Wettbewerb herrschte, was den Sechzehnjährigen herausforderte. Dazu kam der Kulturschock. Zurück in der Heimat, engagierte ihn das »Ballet Philippines«. Ballett habe einen schweren Stand dort, erzählt er. Um Zuschauer anzuwerben, tanzten sie in Schulen und Open Air vor Menschenmassen. Tänzer können heute nur mit einem Zweitjob überleben. Da muss man seinen Beruf schon sehr lieben, sagt er, der nicht an Rückkehr denkt, aber sich wünscht, einmal in der Heimat aufzutreten mit Schläpfers Ballett: »um etwas zurückzugeben«.
Sonny Locsin blieb immer nur für ein Jahr. Meist tanzte er gleich an mehreren Orten vor und konnte dann unter den Angeboten wählen, was ihm passte und planvoll für seine Karriere erschien: »Jeune Ballet de France«, »Ballet Gulbenkian« in Portugal, das »Aterballetto« in Italien und das Ballett des Badischen Staatstheaters Karlsruhe.
»Martin ist ein Choreograf, der mit viel Leidenschaft arbeitet. Das Gefühl ist immer da«, sagt Locsin. Und: »Er weiß, was er will. Kein Suchen nach dem Weg. Das hilft. In diesem Wissen ist er auch sehr behutsam. Es ist eine Beziehung von Geben und Nehmen beim Choreografieren. Nicht bloß Tänzer hier, Choreograf dort, sondern Interaktion. Er sieht dich, deine Fähigkeiten, Stärken und Schwächen. Er schöpft daraus. Du kannst dir zueigen machen, was er für dich erschafft, denn er hat es genau für deinen Körper gemacht.«
Allerdings erwartet der Choreograf auch viel, schon und gerade beim täglichen Training. Im »Magazin des Balletts am Rhein No. 1« schrieb Schläpfer letztes Jahr über das Lernen, das Verstehen, die Kontrolle übers Gefühl, er kritisierte standardisierte Ausbildungsmodelle und ihre Fehler und erwähnte, dass in dieser Menge an Berufstänzern, die durch die Welt springen, nicht viele tatsächlich »brennen für ihre Kunst, dafür alles geben, wirklich wissen, wie man richtig arbeitet«.
Für diese seltenen Qualitäten steht auch die 29-jährige Camille Andriot, die mit ihrem wuscheligen roten Lockenkopf einen Farbtupfer ins Ensemble setzt und seit nun acht Jahren mit Martin Schläpfer arbeitet. »Er kommt mit einer bestimmten Idee, aber er erklärt sie nicht. Er probiert aus, dann versuchst du, nein, normalerweise versuchst du nicht, sondern es geht. Die ganze Sache kann sich ändern, es ist ein Austausch. Sehr intensiv.« Sie aber wohl auch. Die Abwechslung, mit anderen Choreografen zu arbeiten oder bestehende Stücke wie die Hans van Manens oder Jiří Kyliáns mit Ballettmeistern einzustudieren, schätzt Camille Andriot als bereichernde Abwechslung. Das schönste aber ist: »to do Martin«.
Im »Requiem« hat er sie häufig nach vorn sortiert, wenn ein Grüppchen von Frauen als Schwarm erscheint, leicht, schwungvoll und ausgreifend, ohne den weichen Bodenkontakt zu verlieren. Fast könnte man sie für diejenige halten, die den Haufen zusammenhält, vielleicht weil sie mehr weiß. Vielleicht weil das hier ihr Ding ist, die Frage nach dem Leben an sich. Im dritten Satz, »Herr, lehre doch mich, dass ein Ende mit mir haben muss«, geht sie erst langsam rückwärts, dann läuft sie nach vorn. Zwei Männer stehen im Weg und greifen sie im vollen Schwung, sie hat keinen Boden mehr unter den Füßen, will weiter, aber wird zurück getragen, sie läuft wieder an, vorwärts, sehend und blind zugleich, immer wieder, und wird noch weiter zurück getragen. Man sieht ihr schließlich das Leiden an, die Erschöpfung.
Im Gespräch lernt man eine warmherzige, gefühlvolle junge Frau kennen, die mit dem, was sie zum Schwanken bringt, erwachsen umgeht und offenbar mit dieser inneren Beweglichkeit oder Empfindsamkeit ihren Tanz bereichert. Sie kann nämlich auch das, was so wenige Ballerinen drauf haben: sexy sein, ohne vulgäre Note. Eine Art feinstoffliche Weiblichkeit. In »Unleashing the Woolf« (b.08) von Martin Schläpfer und Regina van Berkel fiel sie damit auf in jener heißkalten Atmosphäre von Fruchtlosigkeit und nie gelöster Spannung. Sie überlegt: »Irgendwie tanzt du immer dich selbst. Natürlich musst du ein bisschen schauspielern. Aber ich muss fühlen, dass es meins ist, es soll doch von innen kommen. Über Schritte kann ich sprechen, aber nicht darüber, was ich dann auf der Bühne gebe. Ich habe mich ja auch noch nie gesehen. Nur auf Video, aber das ist was anderes, da sieht man nur Fehler.« Kraftvoll und dynamisch, so sieht sie sich selbst. Schläpfer, glaubt sie, würde sie eher nicht für ein Adagio nehmen.
Warum sie als Kind eines Tages beschloss, Ballerina werden zu wollen, weiß Camille Andriot heute nicht mehr. Schwanensee war ihr Traum. Mit sieben begann sie in Chalon sur Saône in Burgund mit dem Unterricht am Konservatorium, dann wechselte sie nach Lyon. Internat, Schule als Fernunterricht. Danach »Le Jeune Ballet de Lyon«, ein Jahr Praktikum beim Aalto-Ballett in Essen. Das war nicht so ihres. Zwei Jahre bei der niederländischen Truppe »Introdans«, in deren Ensemble für Kindervorstellungen sie extrem viel tourte, bis ins fernste Asien. Manchmal zwei Vorstellungen pro Tag, unterschiedlichste Stücke der leichtergängigen Art. Dann wollte sie für sich weiterkommen, hörte von Schläpfer, durfte mal bei ihm mittrainieren. »Es machte sofort klick.« Sie schätzt seine Art zu choreografieren, das stets unterschiedliche Ergebnis bei gleichbleibend hingebungsvollem Umgang mit den Tänzern. Er ist für die Mitglieder seiner Kompanie da, auch bei persönlichen Tiefs, erzählt Camille Andriot. Auch sie wollte manchmal alles hinschmeißen – aber jeweils nur zwei Tage lang.
Camille Andriot und Sonny Locsin sind aktuell in »b.10« am 1., 3., 5., 13., 17. und 20. November in der Deutschen Oper am Rhein in Duisburg zu sehen. Tel.: 0203/940-7777. www.rheinoper.de