Schon 2018 hat Bert Zander für das Theater Oberhausen in einem leerstehenden Kaufhaus ein unvergessliches Stück inszeniert, bei dem die Grenzen zwischen Bühne und Kino, Installation und Performance verschwammen. Nun denkt er das Theater mit Bürger*innen auf Häuserwänden, Fenstern und Garagentoren weiter.
Es gibt Inszenierungen, die einen einfach nicht mehr loslassen. Noch Jahre später erinnert man sich an Einzelheiten ebenso wie an ihre Wirkung. Solche Arbeiten sind selten. Aber wenn einem Künstler so ein Abend gelingt, dann verändern die Erfahrungen, die er einem schenkt, auch den Blick auf die Kunst. Sie schärfen und erweitern ihn. Zusammenhänge, die verborgen waren, werden sichtbar und fordern neue Gedanken und Ideen. Solch eine Inszenierung war Bert Zanders 2018 am Theater Oberhausen entstandene Adaption von »Schuld und Sühne«.
Der 1972 in Weimar geborene Videokünstler hatte für seine erste eigene Regiearbeit in der oberen Etage des seinerzeit leerstehenden Kaufhof-Gebäudes eine kleine Welt erschaffen. Beim Betreten wirkte der quadratische, auf allen Seiten von großen Leinwänden umgebene und von zwei sich in seinem Zentrum kreuzenden Wegen durchschnittene Raum eher unscheinbar. Das Publikum verteilte sich auf die vier gleichgroßen, von den beiden Pfaden erschaffenen Parzellen. Man behielt sich im Blick, während der von Christian Bayer gespielte Raskolnikow mit den über die Leinwände spukenden Phantomen seiner Erinnerungen und Imagination kämpfte und rastlos auf und ab ging.
Als dann schließlich nach mehr als drei Stunden die letzten Bilder über die Leinwände geflimmert waren und sich Raskolnikow in sein Schicksal als Mörder ergeben hatte, war das Theater ein anderes. Mit dieser Inszenierung hatte Zander die gängigen Unterscheidungen zwischen Bühne und Kino, Installation und Performance, live und vorproduziert, ad absurdum geführt. Im Laufe der Zeit waren die Figuren auf den Leinwänden so real geworden wie die Menschen um einen herum geworden. Es war ein immersives Erlebnis, bei dem der Film dem Theater den Weg ins Innere des Protagonisten eröffnete. Für drei Stunden war man Raskolnikow.
Nun zwei Jahre später wollte Zander eine ganz und gar auf Oberhausen und seine Bewohner*innen zugeschnittene Adaption von Didier Eribons »Rückkehr nach Reims« in einer ehemaligen Zeche realisieren. Wie er am Telefon erzählt, sollte es »eine Inszenierung werden, die weitgehend ohne Video ausgekommen wäre.« Doch nun liegt dieses Projekt wie so viele andere erst einmal auf Eis. Ob Zander es irgendwann nach Beendigung der Anti-Corona-Maßnahmen noch verwirklichen kann? Viel drängender ist für ihn allerdings eine ganz andere Frage. »Was können wir machen, wenn die Theater zu sind? Wir kommen ja nicht rein. Wir können uns nicht nebeneinandersetzen, uns eine Inszenierung angucken und danach darüber streiten.«
»Corona zu Zweit« in Gütersloh
Das fragen sich momentan wohl alle, für die Kunst und Kultur, Theater und Oper, nicht einfach nur ein Anhängsel sind, über das man vielleicht mal nachdenkt, wenn auch das letzte Möbelcenter wieder seine Tore geöffnet hat. Und es gibt auch schon erste Antworten. Joachim Zelter hat ein kleines Zwei-Personen-Monologstück für das Theater Gütersloh geschrieben. Realisiert hat »Corona zu Zweit« nun dessen Intendant Christian Schäfer gemeinsam mit Christine Diensberg und Fabian Baumgarten sowie den Videokünstlern Marwin Gansauge und Kai Uwe Oesterhelweg als knapp 40-minütige Video-Uraufführung. Das Theater streamt und sendet so Lebenszeichen. Die streng nach den Regeln des Kontaktverbots gedrehte Tagikomödie, in der eine neurotische, dem Lügen zugeneigte Frau ihren Nachbarn mit dem Virus der Liebe infiziert, erweist sich als kleine Spielerei mit dem Absurden. Auf amüsante Weise eröffnen Zelter und Schäfer einen etwas anderen Blick auf die Pandemie, der letztlich niemand entkommen kann. Und das Theater bleibt auf der Strecke. Davon zeugen die schicken, aber zutiefst deprimierenden Schwarz-Weiß-Bilder vom verwaisten Theater Gütersloh ebenso wie der Film selbst, der das Bühnenspiel den Gesetzmäßigkeiten von Selfie-Videos opfern muss.
Die Bilder aus und von leeren Theatern sind emblematisch für die gegenwärtige Krise. Denn sie zeugen von einem Verstummen, das weitaus existenzieller ist als Umsatzeinbrüche. Eine Gesellschaft verliert gerade ihre Orientierung. Im Innersten weiß niemand, wie es so recht weitergehen soll. Der Sehnsucht nach Normalität steht die dunkle Ahnung gegenüber, dass nichts mehr so sein wird, wie es vor dem Ausbruch der Pandemie war. Auf diese Stimmung reagiert Bert Zander mit einem relativ kurzfristig entstandenen Projekt. Statt Eribon adaptiert er nun Albert Camus’ »Die Pest« in Form einer sechsteiligen Online-Serie.
Auf den ersten Blick verbindet Zanders Annäherung an den Klassiker des Existenzialismus viel mit seiner Dostojewski-Inszenierung. Wieder fungieren Oberhausener Bürger*innen als Erzähler, die aus einer unbestimmten Zukunft zurückblicken und sich an die Ereignisse des Romans erinnern. Und so wie Raskolnikow im ständigen Austausch mit den Geistern auf den Leinwänden stand, ist nun der in Oran lebende und arbeitende Arzt Rieux Dreh- und Angelpunkt der Serie. Aber er wird nur durch Clemens Dönickes Stimme präsent sein. Die Kamera übernimmt seinen Blick. Das Publikum sieht die Welt, die alleine von den auf nächtliche Hauswände, Fenster und Garagentore projizierten Bildern der anderen Figuren bevölkert wird, mit seinen Augen und schlüpft so in ihn hinein.
Die Aufnahmen der anderen Figuren produzieren die Schauspieler*innen mit Hilfe provisorischer Aufnahmestudios selbst bei sich zu Hause. Diese Aufnahmen werden dann auf Flächen projiziert und gleichzeitig wieder abgefilmt. So trägt Bert Zander, wie er es selbst beschreibt, »das Theater in das Video und verwandelt die stillstehende Stadt in eine Bühne.« Wie »Schuld und Sühne« ist auch das ein Experiment. So arbeitet er auch in Zeiten der Corona-Krise an seinem großen Projekt weiter, »das Theater anders zu denken«.
Die sechs Folgen des Theaterfilms »Die Pest« sind ab 2. Mai 2020 immer samstags um 19.30 Uhr auf der Webseite https://www.die-pest.de kostenlos zu sehen.
Christian Schäfers Verfilmung von Joachim Zelters Tragikomödie »Corona zu Zweit« ist vorerst bis einschließlich 30. Mai auf der Webseite https://www.theater-gt.de/veranstaltung/corona-zu-zweit abrufbar.