Die unerbittlich tickende Uhr, die quietschend einfahrende U-Bahn oder die auf dem Boden abgestellte Ledertasche, die Luft ablassend in sich zusammensinkt – Geräusche sind ein wichtiger Teil ihrer Inszenierung von Aki Kaurismäkis »I hired a contract killer«. Und diese Geräusche erzeugen sie alle selbst, die Schauspielenden des Düsseldorfer Seniorentheaters SeTA. Sie stehen vor Mikrofonen und ihre Gesichter verzerren sich zu Grimassen, wenn sie mit ihren Zungen schnalzen und ihre Wangen aufblasen.
Gabriele Pickart Alvaro und ihre Kolleg*innen denken gerne an diese Produktion zurück, die sie 2018 erarbeiteten. Eine außergewöhnliche Herausforderung, »mal was ganz anderes«. Genau das schätzen sie an ihrer Theaterarbeit, die 29 Vereinsmitglieder zwischen 68 und 93 Jahren, von denen 14 bis 20 aktiv auf der Bühne mitwirken. Jedes Jahr im Herbst bringen sie ein neues Stück auf die Bühne des FFT Düsseldorf – und, wenn möglich, auch als Gastspiel an andere Theater, in anderen Städten. Die Probenzeit sei mindestens genauso toll wie die Aufführungen, »wenn dann das Publikum applaudiert«, sagt Gabriele Pickart Alvaro.
Sie ist 72 Jahre alt, 2013 ist sie dem SeTA beigetreten, war mehrere Jahre auch Vereinsvorsitzende. Sie hatte damals eine Anzeige des SeTA in der Zeitung gelesen, »Mitspieler gesucht«. Theater spielen wollte sie immer schon. Der Beruf, die Kinder – immer sei anderes wichtig gewesen. Mit der Frührente dann kam endlich die Möglichkeit, und jetzt würde sie auch nicht mehr davon loskommen. Als ein »zweites Zuhause« beschreibt Angelika Niedhart das SeTA. Die gelernte Ökonomin und Betriebswirtin hat mittlerweile den Vereinsvorsitz übernommen. »Wer in den Ruhestand geht, muss aktiv bleiben«, rät sie grundsätzlich. Das Theaterspielen koste viel Kraft. Und die Kräfte ließen nun mal nach im Alter. Aber das Theater halte jung, wenn man dafür brennt.
»Wir haben alle unsere Zipperlein, aber auf der Bühne merken wir die nicht«
Angelika Niedhart, Vorsitzende von SeTa
Als Kinder sitzen sie in knalligbunten Kostümen, mit wilden Haaren und Kuscheltieren um den Hals beim »Struwwelpeter« am langen Tisch. Chorisch sprechen sie die Verse, klappern lautstark mit Besteck. Im Hintergrund leuchten Handzeichnungen auf der Videoleinwand. Die Senior*innen singen zum Live-Klavierspiel, sie rappen sogar. Und der Suppenkaspar beschwert sich, weil seine Suppe nicht vegan ist.
Die Textfassung für die gnadenlos-lustvolle Trash-Musical-Version des »Struwwelpeter« (2019) schrieb Kathrin Sievers selbst. Die freie Regisseurin, die in Essen lebt, arbeitet an großen Bühnen wie Bochum oder Wuppertal genauso wie im Amateurbereich. Seit 2016 leitet sie das Ensemble des SeTA. Ein Ensemble aus »Kracherpersönlichkeiten«, wie sie sagt. Eben das zeichnet es aus: „Alte Menschen haben eine eingeschriebene Lebensgeschichte, die spielt immer mit.«
Mit einer großen Ernsthaftigkeit betreiben sie alle das Theaterspielen. Geprobt wird zweimal die Woche, jeweils vier Stunden. Vor der Premiere gibt es intensive Probenwochenenden. Kathrin Sievers arbeitet in anderen Theaterprojekten auch mit Schüler*innen. Spannend ist der Vergleich: Bei den Jugendlichen laufe viel über spontanes Improvisieren. Wenn da zwei Tage vor der Premiere der Text noch nicht sitzt, ist das kein Problem. Bei den älteren Spieler*innen funktioniere die körperliche und geistige Geschmeidigkeit im Sinne von Spontaneität nicht mehr so gut. Lernprozesse dauerten länger, kurz vor der Premiere dürfe nicht mehr viel geändert werden, sonst kämen alle durcheinander. Aber im Kopf seien die älteren Amateur*innen oft freier. Sievers schätzt ihren Mut zur Expressivität.
Zurzeit proben sie Witold Gombrowiczs »Yvonne, die Burgunderprinzessin«, Premiere ist am 13. Oktober im FFT. Die Groteske ist genau passend für diese experimentierfreudige Theatertruppe. Sievers will in ihrer Inszenierung ganz weg vom Naturalismus, optisch prägen die Farben Schwarz und Weiß das Bild. Wie empathisch leben wir in unserer Gesellschaft, wie gehen wir mit Widerständen, mit Pluralismus um? Um solche Fragen geht es der Regisseurin. Yvonne, dieses rätselhafte, passive Mädchen ohne Rang und Namen wird die einzige auf der Bühne sein, die »normal« aussieht. Alle anderen haben weiß geschminkte Gesichter. Die Bühne zeigt Barockgärten, die Musik kommt von Béla Bartók.
Angelika Niedhart spielt diese Außenseiterin Yvonne, wenn überhaupt, dann spricht und bewegt sie sich seeehr langsam. »Das entspricht überhaupt nicht meiner Mentalität und meinem Naturell. Aber genau das ist das Interessante, diese Person in dieser Rolle zu verkörpern«, erzählt die 70-Jährige. Eine echte Herausforderung. Und genau die suchen sie und ihre Kolleg*innen. »Die Bühne ist ein geschützter Raum, da können wir uns ausleben«, ergänzt Gabriele Pickart Alvaro. Und das machen sie. Zweimal haben sie für ihre Arbeit bereits den Deutschen Amateurtheaterpreis gewonnen.
Gänsehaut-Moment auf der Kö
»Die Kombination aus Gruppendynamik, Text und Spielvorgänge lernen bzw. das Projekt künstlerisch mitzudenken und zu -tragen: das hält jung und fit, wie man am SeTA-Ensemble sieht«, meint die Regisseurin Marlin de Haan, auch sie leitete die Gruppe, als Vorgängerin von Kathrin Sievers. Viel Geduld brauche es für diese Arbeit auf beiden Seiten, sagt sie rückblickend.
Für die einen ist es aufregendes Neuland, für die anderen ein Weiter-so, auch nach dem Ruhestand. Brigitte König, heute 82, war 40 Jahre lang Schlagersängerin. In »I hired a contract killer« singt sie kraftvoll, mit einem gekonnten Vibrato und umwerfend charmant Edith Piafs Chanson »Je ne regrette rien«. Auf der Bühne ist sie körperlich unterwegs »wie ein Flummi«, schwärmt Sievers. Seit 1998 sind Brigitte König und ihr 91-jähriger Mann Eugen schon beim SeTA. »Es ist unser Lebenselixier geworden«. Eugen König erinnert sich noch an die 20.000 Zuschauer*innen auf der Düsseldorfer Kö, das war 1998, bei »Die Kö im Wandel der Zeit«, ihre erste SeTA-Inszenierung, ein Gänsehaut-Moment. Da habe er Blut geleckt.
Und im Corona-Lockdown? Da waren die SeTAs mit die ersten Schauspieler*innen, die Leseproben per Zoom abgehalten haben. Zwei Online-Aufführungen haben sie gezeigt. »Im Alter muss man aufpassen, dass man nicht alleine ist«, sagt Brigitte König. Das schafft das SeTA. Ab Januar starten die Proben fürs neue Stück, Brechts »Dreigroschenoper« – mit viel Gesang. Wie sie es lieben.
»Yvonne, die Burgunderprinzessin«
13. Oktober (Premiere), 15. und 16. Oktober
Barrierefrei für Menschen mit Sehbeeinträchtigung,
eine Tastführung vor der Vorstellung ist möglich
FFT Düsseldorf