»Es soll nach Jazz klingen und nicht nach Kammersänger.« Diese Maxime von Thomas Quasthoff sollte eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein, wenn klassisch ausgebildete Sänger das Fach wechseln. Sie ist gleichsam Gedächtnisstütze und Warnung zugleich. Doch hielten sich seine prominenten Kollegen bislang kaum daran, wenn sie mal eine kesse Jazz-Sohle aufs Broadway-Parkett legten. Auch wenn sie dafür gelegentlich sogar den obersten Knopf des Smoking-Hemdes öffneten und mit den Fingern schnippten – heraus kam doch meistens nur ein Recital mit Ohrwürmern Made in USA.
Vielleicht hatte Thomas Quasthoff im Interview auch den blassen Jazz-Tenor Ian Bostridge oder den baritonalen »Don Giovanni«-Crooner Peter Mattei als Beispiele im Hinterkopf dafür, wie man es nicht machen sollte. Sein Erfolgsrezept, um einen klassischen in einen echten Jazz-Sänger zu verwandeln, lautet so: »Um Jazz-Standards adäquat singen zu können, muss man die Begabung haben, genreübergreifend zu musizieren. Wenn man sich diese sogenannten Crossover-Produktionen anhört, dann hört man sofort, dass die meisten es mit einer absolut klassischen Stimme singen. Ich habe mir aber gesagt: Wenn ich eine Jazz-Platte mache, wird meine Stimme definitiv wiedererkennbar sein, aber es wird keine klassisch geführte Stimme sein.«
Die Fähigkeit, die Lied-Stimme in der Brust einfach aus- und die Gershwin-Röhre anzuknipsen, bekommt man nicht in die Wiege gelegt. Aber Bass-Bariton Quasthoff stand schon von Jugend an auf zwei musikalischen Beinen. Oftmals zum Leidwesen von Eltern und Nachbarn, wenn er sich bei laufender Langspielplatte eines John Coltrane am experimentellen Scat-Gesang versuchte. Mittlerweile singt Quasthoff natürlich längst in einer anderen Liga. Der 47-Jährige hat so ziemlich alles mit Auszeichnung ausprobiert, was ein klassischer Allround-Sänger der Sonderklasse im Repertoire haben kann. Mal ist er dem Wanderer in Schuberts »Winterreise« mit einer am Wort entwickelten Lesart und ohne theatralischen Überschwang gefolgt. Dann wieder stapfte Quasthoff in klobigem Schuhwerk als Gralskönig Amfortas in Wagners »Parsifal« erfolgreich über die Wiener Staatsopern-Bühne; oder er zeigte in Bach-Kantaten, dass ein auf differenzierte Sorgfalt und klare Artikulation geeichtes Organ manchmal mehr ergreifen kann als manche Vibrato-Gefühligkeit.
Bei allem Jetset-Leben, das der 1,31 Meter große, selbsternannte »Asterix ohne Zaubertrank« inzwischen führen darf, ist der Jazz ein ständiger Begleiter geblieben. »Es ist ja nicht so, dass man im klassischen Genre arbeitet und alles andere dabei völlig ausklammert. Zwischendurch hört man immer wieder auch Jazz.« Gelegentlich kam es deshalb zwischen einem Liederabend und einem Oratorium schon mal zu Spontan-Gigs »mit populärer amerikanischer Volksmusik«, ob in der Schweiz, in den USA oder einem Club in seiner Wahlheimatstadt Berlin. Vor großem Publikum präsentierte sich der Jazz-Sänger Quasthoff in Deutschland erstmals am 9. September 2004. Anlässlich der Verleihung des Alternativen Nobelpreises trat er in der Berliner Philharmonie zusammen mit der Berliner Philharmonic Jazz Group auf. Mitten unter den Gästen saß damals auch Trompeter Till Brönner, der danach Quasthoff nicht lange zu einem gemeinsamen Album überreden musste. »Es ist schon eine absolute Kooperation gewesen. Till hat mit seiner Erfahrung sehr viel mitgebracht. Es war wirklich eine Zusammenarbeit, für die wir uns in meiner Berliner Wohnung getroffen haben. Dort sind wir die Stücke miteinander durchgegangen. Demokratischer kann so etwas nicht entstehen.«
Auf dem Album »Watch What Happens« spielte er so ein knappes Dutzend Klassiker aus dem amerikanischen Songbook ein. Von Charlie Chaplins »Smile« über Duke Ellingtons »My Solitude« bis zu dem unverwüstlichen »My Funny Valentine« von Rodgers & Hart. Bei der Auswahl wurde darauf geachtet, dass die Songs zumindest entfernt mit Thomas Quasthoff zu tun haben. In »I’ve Grown Accustomed To Her Face« oder etwa in Stevie Wonders »You and I« kann der frisch Vermählte dementsprechend auf Wolke Sieben schweben – ohne in säuselndes Schnulzen abzugleiten! Vielmehr ist Quasthoff in der vom Pianisten und Arrangeur Alan Broadbent angeführten All-Star-Band auf Anhieb der Primus inter pares, der mit seiner enorm warmen und schnörkellos raumfüllenden Stimme ins Herz der Texte und Melodien trifft. Was auch der Trompete spielende Produzent Till Brönner so sieht: »Wenn man während einer Produktion nahezu vergisst, dass man es eigentlich mit einem klassischen Sänger zu tun hat, dann ist das sicher dem Protagonisten zuzuschreiben, der sich bereitwillig in meine Hände begeben hat und sich nicht zu schade war, an seine Grenzen zu gehen. Thomas Quasthoff ist in der Riege der klassischen Sänger im Jazz wahrscheinlich der begabteste und natürlichste.«
Den richtigen Ausdruck zur rechten Note zu finden, war dann auch die einzig wirkliche Herausforderung für Quasthoff: »Wenn Sie eine klassische Ausbildung haben, dann stellen diese Jazz-Stücke rein technisch gesehen relativ wenig Probleme dar. Bei den Songs geht es eher darum, ob man die Texte oder die Musik mag, und nicht um das ›Handwerk‹. Die Tessitura der Stücke ist, bis auf Stevie Wonders ›You And I‹, nicht so riesengroß. Aber auch das ist letztendlich kein großes Problem, wenn man das klassisch-technische Rüstzeug mitbringt. Das soll nicht arrogant klingen, sondern ist einfach Fakt.« Dieses makellose Rüstzeug propagiert Quasthoff daher auch unablässig, wenn er vor seine Studenten tritt. Als Professor für Gesang an der Berliner Hanns-Eisler-Musikhochschule. Nur bereiten ihm nicht nur die jungen Sänger bisweilen heftige Kopfschmerzen (»Wenn man keine Noten kann, soll man eine Bäckerlehre machen.«). Was gerade die musikalische Vielseitigkeit angeht, zu der er unbedingt den Jazz zählt, sieht er noch reichlich Handlungsbedarf: »Durch die leider sehr ausgeprägte Einseitigkeit der Ausbildung an den Hochschulen wird den Studierenden immer wieder vermittelt: Die klassische Musik ist die wahre Musik, das andere ist Unterhaltung. Was ich ganz subjektiv für absoluten Blödsinn halte. Wenn Sie Lieder von Gershwin nehmen, von Irving Berlin und Cole Porter – das sind Stücke des 20. Jahrhunderts, die in ihrer Tradition für mich absolut in einer Reihe stehen mit Schubert-Liedern.« Da ist zwar wieder der Kammersänger Thomas Quasthoff zu erahnen. Doch der muss jetzt eben mal draußen bleiben – beim ersten der beiden einzigen Deutschland-Konzerte des Jazzsängers Quasthoff.
Thomas Quasthoff & Band feat. Till Brönner; 17. März 2007, Kölner Philharmonie, www.koelner-philharmonie.de