// Das Schlussbild von »Nelken«, einem Stück von Pina Bausch aus dem Jahr 1982. Alle Tänzer kommen einzeln auf die Bühne, die Arme hoch über dem Kopf zu einem großen Rund erhoben, stellen sie sich vors Publikum und verraten in knappen Sätzen, warum sie Tänzer geworden sind. Auch Lutz Förster. Er trägt ein kurzes Kleidchen, in dem er während des Stücks wie ein Häschen zwischen den Nelken auf dem Bühnenboden herumgehüpft ist. Oder auf einem Tisch getanzt hat, unter ihm in gebückter Haltung eine Reihe tanzender Mädchen, die er selbstbewusst vom Tisch vertrieben hatte. »Ich bin wegen eines Haltungsschadens zum Ballett gekommen«, bekennt Förster jetzt. »Und der wurde dann auch behoben. Und meine Lehrerin meinte, ich sei ein Riesentalent«. Dann reiht er sich lächelnd ein ins Gruppenbild der Tänzerinnen und Tänzer.
Gleich die erste Frage an Lutz Förster soll also die nach diesem Haltungsschaden sein: Hat er den schon als Kind gehabt, und woher ist er gekommen? Förster lacht: »Das war nicht autobiografisch. Es war überhaupt nicht alles biografisch, was ich in den Stücken erzählt habe.« Die Sache mit dem Haltungsschaden sei in den stundenlangen Proben zum »Nelken«-Schlusstableau entstanden: Immer wieder die gleiche Position. Die Arme schmerzten schon. Da ist er irgendwann nach vorn gegangen und hat gesagt: »Ich bin wegen eines Haltungsschaden zum Ballett gegangen.« Das gefiel Pina Bausch – und Lutz Förster hatte seinen Schlusssatz.
Pina Bauschs berühmte Methode, fragend mit den Tänzern weit in die Kindheit zurückzugehen, sie hat, so Förster, aber nie dazu geführt, dass »wir uns hingesetzt und versucht haben, unser Leben zu verarbeiten«. Man erzählte von eigenen Erlebnissen oder von denen anderer. Oder man dachte sich etwas aus. »In erster Linie kam es für mich darauf an, dass es ein gutes Stück wird«. Aber natürlich auch, »dass ich etwas Schönes darin zu tun hatte.« Wie zum Beispiel in mehren Rollen in »Nelken«. Ziemlich am Anfang dieses Abends tritt Lutz Förster im eleganten dunklen Anzug mit vorsichtigen Schritten im dichten Nelkenfeld auf. Stumm, nur mit Gesten, »singt« er das Lied »The man I love«, gesungen von Sophie Tucker, mit. Ein tief berührendes Solo – und diesmal wirklich mit biografischem Hintergrund. Durch seinen Freund hatte Förster die Songs von Sophie Tucker kennen gelernt. Zwei Jahre nach dem Krebstod des Freundes begegnete er einem Taubstummenlehrer, einem Gerichtsdolmetscher. »Das war am Schwulen-Strand von San Diego«. Die Gebärdensprache faszinierte ihn, und er bat, ihm so eines seiner Lieblingslieder beizubringen: »The man I love«. Und als Pina in einer Probe zu »Nelken« die Frage stellte, worauf sie, die Tänzer, besonders stolz seien, habe er eben dieses Lied buchstabiert. »Das hat ihr gefallen«.
Dieser Gebärdensprachen-Tanz begeistert noch heute, ob in Berlin, Hamburg, Brügge, Essen, Brüssel oder Seoul. Er ist auch Teil eines Soloabends, den Lutz Förster zusammen mit dem französischen Choreografen Jérôme Bel erarbeitet hat: »Lutz Förster« – ein biografischer Bilderbogen. Dass er sich zu einem solchen Knüller entwickelt hat, habe er nicht ahnen können.
Lutz Förster, 1953 in Solingen, Pina Bauschs Heimatstadt, geboren, wuchs in einem Elternhaus auf, wo Kunst als Beruf nicht vorstellbar war. Der Gesellschaftstanz, als Schüler gelernt, blieb jahrelang sein Hobby. Nach dem Abitur studierte Förster in Hamburg Slawistik, Romanistik und Geschichte. An seinem 21. Geburtstag beschloss er, »sich wieder einmal mehr zu bewegen«. Er nahm Ballettunterricht, belegte das Fach Tanzpädagogik am Morgen und ging nachmittags in die Uni. Aber nach kurzer Zeit entschied er sich mit der Aufnahmeprüfung an der Folkwang Hochschule in Essen ganz für den Tanz. Sein späterer Lehrer Hans Züllig meinte damals: »Sie sind ja schon ein bisschen alt, aber wir können es mal versuchen.« Ein Jahr später suchte Pina Bausch für ihre Inszenierung von Strawinskys »Sacre« (»Frühlingsopfer«) tänzerische Verstärkung. »Den großen Tänzer mit der großen Nase und der schönen zweiten Position«, den wollte sie haben. So tanzte Lutz Förster als Student zum ersten Mal 1975 bei Pina Bausch und studierte bis zum Examen weitere drei Jahre in Essen.
Nach einer »Sacre«-Vorstellung bat er Pina Bausch um ein Gespräch. Ja gern, war die Antwort, gleich beim »Spanier«. Aber im Restaurant waren viele Menschen, ein persönliches Gespräch nicht möglich. Um zwei Uhr morgens bestellte Pina ein Taxi. Das Auto war noch nicht losgefahren, da drehte sie sich zu ihm um und fragte, worüber er denn mit ihr reden wolle. Er würde gern Mitglied des Tanztheaters werden, gab Förster zur Antwort, jetzt, nach seinem Abschluss. Darauf Pina Bausch: »Das will ich doch auch. Worüber sollen wir denn noch reden?«
Die folgenden zwei Jahre, so erinnert sich Lutz Förster, waren »eine unglaublich intensive Zeit«. Die Kompanie war fast rund um die Uhr mit Pina Bausch und ihrem damaligen Lebensgefährten, dem Bühnenbilder Rolf Borzik, zusammen. Nach der Vorstellung wurde diskutiert bis in die späte Nacht. »Es ging fast immer um die Arbeit, um das Stück, weniger um einen selber«, sagt Förster. Es war die Zeit, wo die Tänzer nicht mehr nur tanzten, sondern, rannten, schrieen, lachten, weinten, Geschichten erzählten: Man entwickelte gemeinsam eine neue Bühnen-Ästhetik aus Tanz, Sprache, Musik. Lange fühlte sich ein Teil des Publikums damals provoziert, verließ türenknallend den Zuschauerraum oder störte durch Zwischenrufe massiv die Vorstellung. Pina Bausch ging zeitweise aus Angst nur in Begleitung ins Theater.
Mit Rolf Borzik hatte Förster sofort Kontakt: »Wir hatten einen ähnlichen Humor«. Man habe so schön mit ihm herumspinnen können. »Er hatte grandiose Ideen. Viele davon sind in den Stücken enthalten«. Zum Beispiel habe Borzik bei einem späten Essen herumgezeichnet, so wie fast immer, oft auf Papierservietten. Plötzlich war da auf dem Papier ein Nilpferd. Pina: »Rolf, ich brauche kein Nilpferd, ich brauche ein Stück.« Das Nilpferd (aus Pappe, mit Statisten im Inneren) spielte dann in »Arien« eine ganz wichtige Rolle. Oder bei den Proben zu »Keuschheitslegende«: Pina stellte das Thema »Überlebensmaßnahmen«. Lutz Förster erfand eine kleine Geschichte, wie man Regenwürmer sammelt und die dann isst. Nach einer Probe kam Rolf Borzik zu ihm und sagte: »Du hast den besten Satz soeben ausgelassen«. – »Welchen?« – »Wenn man die Regenwürmer vorher nicht in Wasser legt, dann knirscht es so zwischen den Zähnen.«
Rolf Borzik starb nach langer Krankheit 1980: »Ein harter Einschnitt«. Damals hätten sich einige aus der Kompanie sehr um Pina gekümmert. »Als wir dann endlich wieder anfingen zu proben, haben wir versucht, sie mit witzigen Einfällen aufzumuntern.« Zum Beispiel dem Versuch, tanzend zu kochen. Auch eine Idee, die ins Stück »1980« einging. Und jetzt im Förster-Solo-Abend zu sehen ist.
Die Proben bei Pina? »Man konnte alles ausprobieren. Ohne Angst. Man wurde nie heruntergemacht.« Die Choreografin habe stundenlang zugucken können. Sie habe nie bewertet. So seien die verrücktesten Dinge entstanden. Er habe zum Beispiel unbedingt einmal als Nummerngirl über die Bühne laufen wollen. In »Ahnen« ist es ihm geglückt. Er habe immer mal mit einer Feder im Arsch auftreten wollen: in »Ahnen« durfte er es tun. Und wenn Pina den Einfall eines Tänzers nicht mit ins Stück aufnahm? Das habe schon manchmal weh getan, jeden aus der Truppe habe das immer wieder getroffen. So auch ihn. Etwa bei seiner Szene zum Thema »Einsamkeit«: Er kommt mit einem Kalender auf die Bühne, blättert darin: Ja, am Montag habe er frei und am Donnerstag auch, die nächste Woche ist wohl auch frei und der ganze November – eigentlich ist jeder Tag frei. Nach einigen Vorstellungen Pina habe diese Szene gestrichen. Bei der Wiederaufnahme 2004 aber habe sie plötzlich bekannt, damals einen Fehler gemacht zu haben – und hat die Szene wieder hereingenommen.
Hat er sich nie benutzt oder ausgenutzt gefühlt, als Lieferant von Material? Nein, sagt Förster. Das habe er nie so empfunden. Er habe die Fragen als Bereicherung erlebt. »Ich habe die Arbeit auch für mich benutzt.« Außerdem habe niemals Zwang geherrscht, jeder habe freiwillig das einbringen können, was er wollte.
Bei allen Proben, vor allem auch bei den Wiederaufnahmen hat Förster fasziniert, dass Pina Bausch nie zufrieden war. Dass es immer wieder Dinge gab, die man schöner, besser, richtiger, ehrlicher machen konnte. Und diese Beharrlichkeit, gepaart mit unendlicher Geduld und Ruhe, habe sie bis zum Schluss beibehalten. »Bei allem Ruhm, bei allen Auszeichnungen und Preisen ist sie authentisch geblieben, auch mit den immer gleichen Ängsten und Nöten«.
34 Jahre hat Lutz Förster bei und mit Pina Bausch gearbeitet. Protagonist der ersten Stunde, mit einer unverwechselbaren, wunderbaren Bühnenpräsenz. Zwischenzeitlich ist er »woanders hingegangen, aber nicht weggegangen«, das sei ein großer Unterschied: als Stipendiat nach New York zur José Limón Company, später noch einmal als stellvertretender künstlerischer Direktor an denselben Ort. Er hat mit Robert Wilson gearbeitet und war Gastlehrer in aller Welt. »Ich wollte mir beweisen, dass ich nicht nur Bausch-Tänzer war.« Das sei wichtig für ihn gewesen. Und wahrscheinlich die Bedingung für die lange Freundschaft und Arbeitsgemeinschaft.
Seit 1991 ist Förster Professor für Zeitgenössischen Tanz und Beauftragter für den Studiengang Tanz an der Folkwang Hochschule Essen sowie das Folkwang Tanzstudio. Nach dem Tod von Pina Bausch ist er in den Beirat der Bausch-Stiftung berufen worden. Die Todesnachricht von Pina Bausch hat Lutz Förster beim Frühstück erreicht. Der Tag war angefüllt mit Konferenzen, Prüfungen, Proben. Eine Aufführung von Studenten am Abend hat er nicht abgesagt, denn er wusste, auch die Tanztheater-Kompanie würde am Abend beim Gastspiel in Breslau auftreten, wissend, dass Pina Bausch es so gewollt hätte. »Die Choreografin vermisse ich nicht so sehr. Aber der Mensch, der fehlt mir. Sie ist der einzige Mensch gewesen, der mich im besten Sinne verunsichern konnte.« //
»Lutz Förster«, 9. und 10. Jan. 2010, PACT Zollverein, Essen. www.ruhr-2010.de/lutz-foerster + www.pakt-zollverein.de