Sind es die Restbestände der Porträtfotografie, die hier durch hell erleuchtete Fenster hindurch gemustert werden? Was offeriert sich da dem voyeuristischen Blick durch die Streben? Der Mann jedenfalls, bekleidet mit kurzer Sporthose und Trainingsjacke, schaut direkt und irgendwie auch erwartungsfroh in die Kamera. Er steht in seinem Wohnzimmer und spricht in ein seltsam veraltetes, schnurloses Telefon hinein. Man könnte vermuten, dass er Shizuka Yokomizo noch schnell die letzten Anweisungen gibt, wie er sich selbst am liebsten ins Bild gesetzt wissen möchte. Denn die in London lebende Japanerin, deren Arbeiten das Leverkusener Museum Morsbroich zusammen mit 15 weiteren Positionen in »Der Kontrakt des Fotografen« zeigt, hat sich und ihre Apparatur draußen, vor seiner Wohnung, aufgestellt. Die Fotografin und der Porträtierte sind sich räumlich nie näher gekommen als in diesem Moment. Sie haben vor oder während der Aufnahme nicht miteinander telefoniert.
»Lieber Fremder, ich bin Künstlerin und arbeite zurzeit an einem Fotoprojekt mit Menschen, die ich persönlich nicht kenne. Ich würde mich freuen, wenn Sie sich an diesem Projekt beteiligen könnten.« So beginnt der anonym mit »Faithfully, Artist« unterzeichnete Brief, den all jene zunächst in ihrem Briefkasten fanden, die sich selbst und ihre Privatsphäre dem Blick Yokomizos willentlich preisgegeben haben und so in die Serie »Strangers« eingegangen sind. Die Bedingungen dafür regelte das Schreiben explizit in Form eines Vertrags: für zehn Minuten solle man sich allein an einem festgelegten Termin vor das der Straße zugewandte Zimmer der Wohnung stellen. Kein Kontakt bis zur und während der Aufnahme. Danach bekomme der oder die Fotografierte einen weiteren Brief mit einem Abzug des Bildes sowie Namen, Adresse und Telefonnummer der Künstlerin. Um sie wissen lassen zu können, ob das Foto ausgestellt werden darf.
Expliziter als in Yokomizos Projekt ließen sich die Konditionen kaum formulieren, die die Porträtfotografie heute bedingen. Zeigt »Strangers« doch mustergültig, wie sich die Komplizität, die am Ursprung des Genres steht, in ihr Gegenteil verkehrt hat: Einstmals Dienstleister für ein bürgerliches Publikum, dessen Selbstverständnis und Selbstbewusstsein er ins Bild zu setzen hatte, hat der Fotograf – zumindest der avanciertere Vertreter
– im Laufe des 20. Jahrhunderts gänzlich die Kontrolle über das Arrangement übernommen.
Tatsächlich kann ein Vertrag einseitiger kaum sein, als der, den Shizuka Yokomizo im Namen der Kunst aufgesetzt hat. Zwar räumt sie ihrem unbekannten Partner noch ein Recht auf Ablehnung in unterschiedlichen Graden ein. Sei es als grundsätzliche Nichtannahme durch Vorziehen der Gardinen oder partielles Widerspruchsrecht gegen die Veröffentlichung des Bildes. Doch dadurch wird der Vertragspartner – genau an diesem Punkt greift Yokomizos Projekt weit über die Befragung der Porträtfotografie als solcher hinaus – dazu genötigt, sich im Falle seines Nichteinverständnisses aktiv gegen das aufdringliche Auge der Kamera zu schützen. Die Offenlegung des Privaten wird auf diese Weise zur quasi selbstverständlichen Gegebenheit, zugleich aber auch zur Prämie. Will die Künstlerin ihren Modellen doch nichts anders bieten als: eine Ausstellung. Durch diese subtile Form erzwungener Freiwilligkeit vermag »Strangers« den medialen Heißhunger nach öffentlich gelebter Intimität so nüchtern und präzis wie kaum ein kulturkritischer Versuch zu beschreiben.
Während Yokomizos Modelle zwar keine Kontrolle über das von ihnen verfertigte Bild mehr haben, es aber dennoch publiziert wissen möchten, setzt die US-amerikanische Fotografin Tina Barney noch einmal ältere Verträge auf. Zumindest scheint dies dem ersten Blick auf die Resultate so. In ihrer Serie »The Europeans« stellt Barney sich doch ganz in den Dienst der repräsentativen Anliegen der von ihr Fotografierten. Es sind europäische Angehörige des finanziellen und intellektuellen Hochadels, dessen Distinktionsrepertoire an Gesten und Interieurs Barney verschwenderisch in Szene setzt und so die Selbstdarstellung bis an jenen Punkt führt, an dem die Tradition als überkommene Form sichtbar wird. So dass in »The Orchids« die Menschen der Starre des von ihnen bewohnten historischen Mobiliars anheim fallen, sie selbst nicht mehr souveräne Bewohner, sondern Objekte eine Museums sind.
Barney begeht eine Art legalen Vertragsbruch durch Übererfüllung der traditionellen Vorgabe. Die Bildtitel fungieren dabei als Kleingedrucktes, das die abgründige Bildintention offenlegt. »The Doll« etwa zeigt Familienleben im gediegenen Ambiente, die Blicke des Vaters und der älteren Tochter stolz auf die jüngere gerichtet, die mit einer Puppe spielt. Wobei der Bildaufbau keine Zweifel lässt, dass wir es hier mit einer kritisch verdoppelten Szene zu tun haben: Was die Puppe der Tochter, ist diese selbst dem Rest der Familie – ein Spielzeug.
Eine ähnliche, implodierende Wirkung entfalten auch einige der Porträts von Angehörigen des florentinischen Adels, die der französische Fotograf Patrick Faigenbaum 1984/1985 in altmeisterlich plastischer Manier angefertigt hat, ohne dabei wie Barney vor allem auf den elitären Habitus abzuheben. Während das Licht auf jede erdenkliche Weise in die Palazzi einfällt, hat Faigenbaum seine sorgsam arrangierten Kompositionen gegen Zeit geradezu hermetisch abgedichtet. Derart der Gegenwart entfremdet, werden die Porträtierten hier zu Überlebenden einer fernen Epoche.
Bezeichnenderweise sind es diese ästhetisch wie theoretisch ambivalenten Positionen, die den »Kontrakt des Fotografen« in der facettenreichen, von Markus Heinzelmann und Matthias Flügge kuratierten Ausstellung scharf hervortreten lassen. Derweil sich konzeptuelle Arbeiten wie die »Drug Series« von Ashkan Sahihi oder Marjaana Kellas Projekt »Hypnosis« einmal mehr an der
– hinlänglich dekonstruierten – klassischen Vorstellung von Porträt abarbeiten. Beide versuchen der Konvention über die Bewusstseinstrübung ihrer Modelle beizukommen: Während die Finnin das Band zwischen körperlicher Erscheinung und Bewusstsein über die Hypnose kappen lässt, setzt der gebürtige Iraner die von ihm Porträtierten unter Drogen, um bewusstes Posieren zu verhindern. Er schließt also einen Kontrakt gegen den herkömmlichen Vertrag im Sinne einer Vereinbarung beider Beteiligten mit dem Ziel, den Porträtierten so anmutend wie möglich aussehen zu lassen.
Das ist erklärtermaßen das Ziel Mario Testinos, eines der zurzeit gefragtesten und einflussreichsten kommerziellen Mode- und Porträt-Fotografen der Welt. Unter dem ebenso doppeldeutigen wie koketten Titel »Out of fashion« zeigt das Düsseldorfer NRW Forum Kunst und Kultur knapp vierzig seiner Arbeiten aus den letzten zehn Jahren. Kokett ist der Titel, weil die Bildsprache Testinos alles andere als aus der Mode ist. Ganz im Gegenteil ließ sich in der letzten Zeit doch eine Testinoisierung der Modefotografie beobachten. Testinos Spiel mit den vulgären und klischierten Formen der Erotik, die quietschbunte Ausgelassenheit, die seine Bilder bisweilen auszeichnet, ist nahezu zum Inbegriff des Genres geworden.
Gern wird der gebürtige Peruaner auch als »Hoffotograf Hollywoods« bezeichnet. Tatsächlich erfreuen sich Testinos Arbeiten nicht nur bei den Lesern von »Vogue«, »Vanity Fair« und »The Face« – um nur wenige der zahlreichen Magazine zu nennen, für die er regelmäßig arbeitet – großer Beliebtheit, sondern auch bei den Models und Berühmtheiten, die vor seiner Kamera standen. Denn in ästhetischer Hinsicht ist Testino ein äußerst verlässlicher Vertragspartner.
Elizabeth Hurley, die Testino vor ein paar Jahren in ausgestellt privater Atmosphäre mit einer Fernsteuerung auf einem Flokati-Teppich liegend abgelichtet hat, hat Testinos visuellen Umgang mit Menschen einmal als eine Art kosmetische Fotografie beschrieben: Selbst wenn er die unsexiesten Menschen fotografiere, gelinge es ihm, sie in dem Moment, in dem er auf den Auslöser drücke, Sex Appeal ausschwitzen zu lassen. Doch unerotische Menschen fotografiert er ja eher selten. Bei Testino, so ist immer wieder zu hören, sehen die Celebrities immer etwas besser aus, als auf den Fotos seiner Kollegen. Was es zweifellos leichter macht, sich in seinen Inszenierungen als besonders gut getroffen wiederzuerkennen.
Bemerkenswert ist das nicht, weil die derart beschriebene Zusammenarbeit zwischen dem Fotografen und den Porträtierten noch einmal exemplarisch jenes Vertragsmodell als aufpolierte Konvention in bisweilen bestechend schöner Form vor Augen führt, die zu hinterfragen sich die im Museum Morsbroich ausgestellten Künstler alle erdenkliche Mühe geben. Überraschend ist vielmehr, dass Testino, um die Qualität seiner Arbeiten zu beschreiben, von der »inneren Schönheit« seiner Models spricht, von der Persönlichkeit der Mädchen, die es zum Ausdruck zu bringen gälte. Diese Gleichsetzung von wohlproportionierter Form und Wahrheit ist für einen Meister der Oberflächenmodellierung ein erstaunlicher Versuch, seiner Tätigkeit eine Tiefenfundierung zu geben.
Ist das jetzt einfach nun ein Irrtum platonischen Ausmaßes? Die Modewelt jedenfalls kultiviert die Legende, Testino habe die Fähigkeit, die Menschen, die er porträtiere, vergessen zu lassen, dass sie posieren. Doch sollte man sich hüten, die in seinen Fotos häufig ausgestellte Intimität mit Privatheit zu verwechseln. Letztere ist bei Testino nur als kalkulierter Effekt zu haben, der die fotografierte Hyperprominenz mit einem weiteren Attraktivitätsbonus versieht. Mögen uns seine Lobredner auch zu verstehen geben, dass sich die Inszenierung mit ihren eigenen Mitteln außer Kraft setzen lässt, ist es Testino doch nicht um »seelische« Einblicke, sondern um Schauwerte zu tun. Weil das so ist, können sich die Berühmten und Schönen ruhig ans offene Fenster stellen. Denn sie wissen, dass Mario Testino sie dort bestimmt nicht fotografieren würde.
»Der Kontrakt des Fotografen« bis zum 27. Mai im Museum Morsbroich,www.museum-morsbroich.de Mario Testino: »Out of Fashion« bis zum 17. Mai im NRW Forum Kultur und Wirtschaft, www.nrw-forum.de