Reales Bühnenerlebnis? Livestream? Aufzeichnung? Oder Theater plus Livestream? Den Machern des Festivals tanz nrw 21 schwirrt der Kopf. »Wir müssen nicht nur Plan A, sondern auch Plan B, C und D mitdenken«, sagt Maike Lautenschütz vom Festivalbüro. Für alle Varianten muss dieses vorbereitet sein und Organisation, Technik und Manpower vorhalten. Denn nicht einmal Lothar Wieler vom Robert-Koch-Institut kann jetzt sagen, was vom 28. April bis 9. Mai in diesen Pandemie-Zeiten möglich ist, wenn die Biennale für zeitgenössischen Tanz in NRW über die Bühnen und Grünanlagen von neun Städten geht: Bonn, Düsseldorf, Essen, Köln, Krefeld, Mülheim an der Ruhr, Münster, Viersen und Wuppertal präsentieren Formate von 26 freien Choreograf*innen und Ensembles.
Darunter von vertrauten Größen wie Ben J. Riepe, Stephanie Thiersch oder CocoonDance. Mit Ursina Tossi oder Seongmin Yuk sind aber auch einige neue Gesichter dabei. Fünf Uraufführungen glitzern unter den mehr als 40 Vorstellungen. Dazu stehen diverse Angebote zum Mitwirken an das Publikum im Programm – ob analog, digital oder hybrid. Von der Parkplatz-Performance »Car Walk«/N. N. (Billinger und Schulz) über klassisches Ballett und HipHop bis hin zu Funkenmariechen – es ist schon beeindruckend, wie breit und auch (gesellschafts-)politisch die Tanzkunst in NRW aufgestellt ist. Letztere, also die Funkenmariechen, lässt Reut Shemesh gleich zur Festivaleröffnung in Viersen als Zehner-Formation auftanzen. »Cobra blonde« heißt die Produktion mit Blick auf die blonde Perücke und die gestrenge Uniform. Messerscharf, so die Choreografin, wolle sie darin auf vorherrschende Geschlechterverhältnisse gucken. Derweil, ebenfalls an Tag eins des Festivals, erzählt das Duo HartmannMueller die Schöpfungsgeschichte neu, draußen im Park der Städtischen Galerie Viersen: Für »Die ultimativ positive, performativ installative, relativ alternative Schöpfung« hat es dort ein Laboratorium aufgebaut. Darin wollen Simon Hartmann und Daniel Ernesto Müller untersuchen, ob der Mensch sich seine Welt erschafft oder zerstört. Müller steuert auch eine Premiere bei: »Praktisch galaktisch« nennt er sein Solo, in dem er sich in einer Zwischenwelt bewegt. Es beschwört die Fantasiewelt der unheimlichen Dämmerung, in der sich Bäume in Riesen und Tische in Zwerge verwandeln.
Die achte Edition des Festivals präsentiert auch Stücke an der Grenze von zeitgenössischem Tanz und Zirkus. Overhead Project, ein Ensemble, das körperliche Risiken eingeht, setzt in der Uraufführung von »Circular Vertigo« auf ein Pauschenpferd – ein 100 Kilo schweres, von der Decke hängendes Turngerät. Die Tänzerin Mijin Kim reitet es virtuos zwischen gefährlichem Taumeln und glücklichem Triumph. Auch Felix Bürkle hat eine artistische Biografie. Sein Erfolgsstück »beckett, beer and cigarettes«, das 100 leere Flaschen das Tanzen lehrte und Pina Bausch zum Internationalen Tanzfestival NRW 2008 einlud, erfährt ein Update. »Last Order« heißt seine Uraufführung und verstrickt drei Performer*innen samt Musiker und Komponist Moritz Anthes in einen buchstäblichen Balance-Akt der Sinnestäuschungen.
Mit einem Abschlussball bei Pact Zollverein in Essen klingt das Event aus. Und die Zuschauer kommen zu Wort – in Briefen an den Tanz, die sie in Workshops verfasst haben. »Just in Time« lautet der Titel des städteübergreifenden Projekts von deufert&plischke. Ein Abend der persönlichen Tanzmomente. Hoffentlich auch der persönlichen Begegnungen.
28. April bis 9. Mai 2021