Duisburg ist am Wasser gebaut. Zehn Prozent der Stadt bestehen aus Rhein, Ruhr und Kanal, der Binnenhafen ist der größte weltweit. Angesichts dieser Dimensionen ist der Innenhafen nur ein winziger Wurmfortsatz, den man mit kaum 2000 Schritten durchmessen hat, immer entlang der liegen gebliebenen Bahnschienen und hölzernen Schwellen, vorbei an historischen Kränen. Auf dieses winzige Stück Wasserstraße hat die Stadt große Hoffnungen gesetzt. Nachdem der 1844 gebaute Innenhafen 120 Jahre lang geboomt hatte, lag er anschließend 20 Jahre lang brach. Im Zuge des Zukunftsprogramms IBA Emscherpark wurde er nach einem Masterplan des Star-Architekten Sir Norman Foster ab 1990 dann zu einem Prototyp des Strukturwandels – und der ist noch lange nicht beendet.
Avi Kaiser und Sergio Antonio beobachten diesen Prozess seit 20 Jahren von ihrem Küchenfenster aus. Dass die beiden – international erfolgreiche Tänzer und Choreografen aus Israel bzw. Italien – in Duisburg gelandet sind und die Stadt mittlerweile als ihre Heimat sehen, ist einer der Erfolge. Von ihrem 300 Quadratmeter großen »The Roof Tanzraum» im Dachgeschoss einer Druckerei blicken sie direkt aufs Wasser und den davor liegenden »Garten der Erinnerung». Er ist ein Werk des jüngst verstorbenen Bildhauers und Land-Art-Künstlers Dani Karavan, dem es gelang, die Überreste der einst dort stehenden Industriegebäude und sogar den beim Abbruch entstandenen Schutt in einen Park zu integrieren.
Es sind moderne Ruinen, die Kaiser und Antonio von ihrem Fenster aus sehen: Da führt ein Treppenhaus ins Nichts, weiße Betonstempel tragen schon lange nichts mehr – doch am meisten begeistern sich die Tänzer für das »Ludwigforum», das Skelett einer Lagerhalle. Es braucht nicht viel Phantasie, um darin eine Bühne zu sehen. Roh und verletzlich steht sie da und bietet Raum für Selfie-Jäger, Liebespaare oder Sonnenbadende. Das Duo Kaiser/Antonino hat der Park bereits zu einigen Produktionen inspiriert – etwa zu ihrem jüngsten Stück: »Die Stille Karawane».
Wenn sie sich etwas weiter aus ihrem Fenster beugen, sehen sie auf der anderen Seite des Hafenbeckens die »Five Boats», einen gigantischen Bürokomplex, und dazwischen die Marina mit ihren Hausbooten und Yachten. Die sichtbaren Spuren und Narben neben dem Glatten und Geleckten ist es, was die Tänzer lockte und sie in Duisburg hält. Sie tragen ihre am Innenhafen entwickelten Produktionen in die Welt. Dass Journalisten oft fragen, warum er »ausgerechnet in Duisburg» lebe, findet Avi Kaiser tragisch – aber auch ein wenig verständlich. »Man braucht wohl die Perspektive von außen, um diese Sicht zu gewinnen», sagt er. Grausam und grau, das sei Duisburg ja auch – aber vor allem ein inspirierender Kraft-Ort. Der Innenhafen stellt nach seinem Verständnis die Hafenpromenade in Düsseldorf weit in den Schatten.
Spektakuläres Museum Kuppersmühle
Dafür sorgt vor allem eine Institution, die inzwischen die wohl meisten Besucher von auswärts anlockt: das Museum Küppersmühle. Die einen kommen wegen der Kunstsammlung hierher, die anderen wegen des Gebäudes – beides ist spektakulär. Die Schweizer Architekten Herzog & de Meuron bauten die ehemalige Mühle aus dem 19. Jahrhundert mit ihrer historischen Backsteinfassade um in ein Ausstellungshaus, das selbst skulpturalen Charakter hat, vor allem in den gewundenen Treppentürmen aus terrakottafarbenem Beton, aber auch durch die Einbindung der historischen Silos, die die alte Mühle mit einem erweiternden Neubau verbinden. Vom Erdgeschoss und von zwei Brücken in den Oberschossen aus erlebt man die komplette Höhe der entkernten, in ihrer ursprünglichen Rohheit belassenen Silos. Ein »Wow!» ist kaum zu unterdrücken, wenn man diese immense Vertikale erstmals betritt. Dabei verbindet sich gerade mit den Silos auch die Geschichte eines Bauskandals: Ursprünglich sollte ein riesiger, leuchtender Kubus als weithin sichtbare Landmarke auf die Silos gesetzt werden und die Erweiterungsfläche für das Museum bilden. Pfusch am Bau machte die Baustelle zum Millionengrab. Nun soll stattdessen eine weitaus bescheidenere Aussichtsplattform auf den Silos für Weitblick sorgen.
Das Gebäude beherbergt die hochrangigen Kunstsammlungen des Ehepaares Ströher – Sylvia Ströher ist eine der reichsten Frauen Deutschlands – sowie die Sammlung von Hans Grothe: Die Säle schmücken Werke von Gerhard Richter und Georg Baselitz, Anselm Kiefer und Josef Albers, Rosemarie Trockel oder Emil Schumacher oder der Fotografen-Paare Blume und Becher.
Ein weiteres Beispiel für (vorerst) gescheiterten Gigantismus ist schräg gegenüber am ehemaligen Holzhafen zu besichtigen: Seit mehreren Jahren wartet dort das Projekt »The Curve» auf den Weiterbau – geplant ursprünglich als energieeffizienter Büro-, Hotel- und Gastronomiekomplex. Bereits fertig gestellt ist seit 2008 allein die »Stufenpromenade» als Fundament, eine riesige, an ein halbrundes Amphitheater erinnernde Treppenanlage. Aus Sicherheitsgründen ist der Zugang gesperrt – eine weitere millionenschwere Ruine, die aber nach Auskunft der Stadt Duisburg mit einem neuen Investor keine bleiben soll.
Avi Kaiser und Sergio Antonio hätten gerne auch diese spektakuläre Beton-Kulisse für eine Tanzproduktion genutzt – doch auch sie müssen jenseits der Absperrgitter bleiben. Die beiden sind eigentlich ein Trio: In ihren Tanz-Produktionen machen sie den jeweiligen Schauplatz ihrer Aufführung zum dritten Protagonisten.
In unseren Inszenierungen ist der Ort der wichtigste Darsteller.
Sergio Antonio
Mit einer klassischen Bühne im Theater können die beiden wenig anfangen – sie geben sich Orten und Un-Orten im öffentlichen Raum hin, fühlen sich in sie ein, verschmelzen mit ihnen – und finden intuitiv zu einer körpersprachlichen Kommunikation. Getanzt haben sie beinah überall – in Flüchtlingsheimen und Fußgängerzonen, an Autobahnkreuzen und in Privatwohnungen. »Dialog entsteht nur, wenn man die Sprache des Ortes versteht», sagt Avi Kaiser.
Als die viel reisenden Künstler während des Lockdowns für mehrere Monate an ihre Duisburger Heimat gefesselt waren, lernten sie den Innenhafen noch besser kennen, erforschten neue Wege und Orte – und landeten eines Tages am Landesarchiv NRW. Der denkmalgeschützte Speicher aus den 1930er Jahren wurde durch die Architekten Ortner & Ortner um einen 76 Meter hohen Turm ergänzt, der aus dem historischen Gebäude herauswächst. »Dieser Turm ist die pure Idee von einem Haus», schwärmt Antonio, »archaisch, wie von einem Kind gemalt, wie mit Lego gebaut.» Die strenge Schönheit der fensterlosen Fassade animierte das Paar zu dem wohl formalisiertesten aller Tänze: einem Tango.
Hinter den alten roten Ziegeln und dem neuen roten Klinker von Deutschlands größtem Archivgebäude befindet sich nichts weniger als das Gedächtnis des Landes NRW bzw. der rheinische Geschichte: Urkunden und Schriftverkehr aus 1200 Jahren, vom frühen Mittelalter bis in die Gegenwart, dazu bedeutende Handschriften, historische Karten, Nachlässe bedeutender Persönlichkeiten oder das größte öffentlich zugängliche Luftbildarchiv Deutschlands. In einem sich anschließenden, wellenförmigen Gebäudetrakt mit Bibliothek und Lesesälen kann man mit Blick auf den Hafen forschen und recherchieren.
Direkt gegenüber auf der anderen Wasserseite wird diese Vergangenheit in eine sinnliche Erzählung übersetzt: Das Kultur- und Stadthistorische Museum bietet einen spannend inszenierten Spaziergang durch die Stadtgeschichte. Der Altbau des Museums hat selbst einiges zu erzählen: Es ist im Getreidesilo einer ehemaligen Mühle untergebracht, in der noch bis 1969 gemahlen, gemischt und gewogen wurde. In der Ausstellung erfährt man, dass es im Innenhafen um 1900 etwa 30 Getreidehandlungen und viele Speichergebäude gab – Duisburg galt, bevor es zur Stahlstadt wurde, als »Brotkorb des Ruhrgebiets». Als das Museum 1991 in die umgebaute Mühle einzog, war dies der Startschuss für den Wandel des Innenhafens.
Spaziergang durch die Stadtgeschichte
Das Stadtmuseum erzählt auch davon, wie Einwanderer die Stadt prägen – und schon immer geprägt haben. Römische Soldaten, friesische Händler und polnische Bergleute hinterließen ihre Spuren. Gerhard Mercator war der wohl berühmteste Immigrant; anno 1552, in der Zeit heftiger Glaubenskämpfe, kam er aus dem heutigen Belgien nach Duisburg, wo der liberale Herzog von Jülich-Kleve-Berg das Sagen hatte. Obwohl schon damals als Kartograf berühmt, wurde Mercator als Ketzer verfolgt und war sogar einige Monate eingekerkert. Duisburg erschien ihm ein vielversprechendes Ziel, da die Gründung einer Universität bevorstand. Die Hochschule sollte einen dringend benötigten Strukturwandel einläuten: Duisburg war zu jener Zeit ein Ackerbürgerstädtchen, nachdem der Rhein, der einst dicht am historischen Stadtkern vorbeifloss, sein Bett weit in Richtung Norden verlagert hatte. Ein dramatischer Niedergang der einstigen Hansestadt am Hellweg war die Folge, die Gründung der Universität eine Art Notwehr.
Mitsamt seiner Werkstatt siedelte Mercator um und fand eine Bleibe an der Oberstraße, nur wenige Meter vom heutigen Innenhafen entfernt. Auch wenn er die Universitätsgründung 1655 nicht mehr erleben sollte: In Duisburg schuf Mercator seine berühmte große Weltkarte. In der geheimnisvoll illuminierten Mercator-Schatzkammer in der oberen Etage des Stadtmuseums kann man sie in ihrer digitalen Form anschauen, dazu äußerst kostbare Erd- und Himmelsgloben. Die Stadt Duisburg entwickelt ihm zu Ehren seit Jahren das »Mercatorquartier» zwischen Rathaus und Stadtkirche neu, eine Bürgergenossenschaft lässt auf den historischen Fundamenten sogar Mercators Wohnhaus rekonstruieren.
Heute sind es Einwanderer wie Rahim Darwisha, die Spuren hinterlassen. Vor sechs Jahren, als in seiner syrischen Heimat der Krieg wütete, floh er nach Deutschland und landete in Duisburg – ein junger Mann ohne Sprachkenntnisse und Netzwerke. Heute ist er einer der Köpfe hinter dem »Stapeltor», Duisburgs jüngstem Kulturzentrum. In den Räumen eines ehemaligen Textilgroßhandels schufen er und seine Mitstreiter einen Raum für alternative Kultur, an dem jeder seine Ideen umsetzen kann, an dem man sich treffen kann, ohne Geld ausgeben zu müssen. »Mir war es wichtig, aus der Rolle des Gastes heraus zu kommen und selbst einmal Gastgeber sein zu können», sagt Rahim. Das ist im Stapeltor nun möglich. Konzerte, Spieleabende und Salsa-Workshops, ein lesbisches Kneipen-Quiz oder eine Jam-Session – die Besucher gestalten das Programm mit.
Spuren hinterlassen auch Avi Kaiser und Sergio Antonio – nicht in der gebauten Umgebung, dafür aber in den Köpfen und Herzen aller Menschen, die ihrer Körper-Kommunikation mit dieser Umgebung zusehen dürfen.
Kultur- und Stadthistorisches Museum
Der unterhaltsam präsentierte chronologische Rundgang durch die stadtgeschichtliche Sammlung von der Steinzeit bis zur Gegenwart erzählt auch die Geschichte des Innenhafens als einstiger »Brotkorb des Ruhrgebiets«. Die Beschriftung ist deutsch-englisch.
Johannes-Corputius-Platz 1
stadtmuseum-duisburg.de
Museum Küppersmühle (MKM)
Die spektakulär umgebaute ehemalige Mühle beherbergt eine bedeutende Kunstsammlung mit über 300 Werken seit 1950 – darunter von Gerhard Richter, Bernd und Hilla Becher, Anna und Berdhard Blume, Josef Albers oder Anselm Kiefer. Das Gebäude samt Erweiterungsbau ist ein Kunstwerk für sich.
Philosophenweg 55
museum-kueppersmuehle.de
Stapeltor
Das soziokulturelle Zentrum ist ein offener, unkommerzieller und selbstorganisierter Freiraum mit einem Programm, das die Besucher mitbestimmen können – indem sie es mitorganisieren!
Stapeltor 6
stapeltor.de
Restaurant Küppersmühle
Die feinste Adresse zum Essen am Innenhafen – regionale Zutaten landen in internationalen Kreationen. Mittags speist man etwas günstiger.
Philosophenweg 49-51
kueppersmuehle-restaurant.de
Synagoge der Jüdischen Gemeinde Duisburg-Mülheim/Ruhr-Oberhausen
Die Architektur der 1999 errichteten Synagoge erinnert an ein aufgeschlagenes Buch. Sie beherbergt zusätzlich einen großen Saal mit Bühne, Bibliothek, Büros, Klassenräume, Wohnungen und die Räume des Kinder- und Jugendzentrums.
Springwall 16
jgduisburg.de