Redaktion: Guido Fischer
Auch wenn er von den Hardlinern der zeitgenössischen Musik geschnitten wurde, Hans Werner Henze ist seinen eigenen Weg gegangen und hat seinen Weg gemacht. Der im westfälischen Gütersloh geborene Henze hat als Kompositionslehrer eine ganze Generation geprägt. Seine Opern und Orchesterwerke dirigierten Karajan, Rattle oder Thielemann. Zu den von ihm initiierten Projekten gehören der Cantiere Internazionale d’Arte in Montepulciano sowie die Münchner Biennale für Neues Musiktheater. Innerhalb von Ruhr.2010 wird Henze ganzjährig mit einer Retrospektive gewürdigt, die u.a. seine Oper »Elegie für junge Liebende« am Aalto-Theater in Essen und ein »Orpheus«-Projekt in Dortmund bietet. Die Ruhrtriennale bringt zudem als Auftragwerk sein Musiktheaterstück »Gisela! Oder: Die merk- und denkwürdigen Wege des Glücks« zur Uraufführung. Aus Anlass der totalen Henze-Saison – und seines 84. Geburtstags am 1. Juli – haben wir Weggefährten und Komponisten gebeten, HWH hochleben zu lassen. Jeweils drei Fragen sollten ihre Hommage leiten:
• Was macht das Faszinierende und Einzigartige des Künstlers und Menschen aus?
• Welches Werk Henzes beeindruckt Sie besonders?
• Was wünschen Sie Henze zum Geburtstag?
JENS BROCKMEIER
• Dass er sich jeder Festlegung entzieht und auf keinen Nenner zu bringen ist – wie seine Musik, der ebenso wenig mit einer Zuschreibung, einem Label, einer Zuordnung zu einem Stil, einer Schule oder Epoche der Musik- und Zeitgeschichte beizukommen ist. Sein Witz, sein Sinn für alle Formen der Ironie, nicht zuletzt der Selbstironie. Seine vielen Tentakeln, die in vertraute und unvertraute, mir oft unheimliche Bereiche der menschlichen Erfahrung hineinreichen und das, was sie einmal umschlossen haben, nicht wieder freigeben, bis es sich in Musik (oder eine andere reale oder imaginierte Sprache) verwandelt hat. Kurz, das Gottesanbeterinnenhafte.
• »We Come to the River« (1976) und »Orpheus« (1978). In beiden Werken gibt es Musiken, die nicht nur darstellen, wie jemand an sich und der Welt verzweifelt, Sinne und Verstand verliert, sondern die diesen extremen Prozess leibhaftig durchleben und in der Mitte der Existenz verorten. Ich glaube, dass dies der Hauptgrund ist, warum diese beiden Bühnenwerke, die mit zu Henzes musikalisch anspruchsvollsten gehören, so selten auf den Spielplänen zu finden sind.
• Die Gelassenheit des Minotauros nach der geglückten Flucht aus dem Labyrinth. Und einen großen Scotch.
Der Psychologie-Professor Jens Brockmeier war Dramaturg bei der Ur-aufführung von Henzes »Orpheus« und ist Herausgeber von Henzes »Musik und Politik. Schriften und Gespräche, 1955-1975«.
DETLEV GLANERT
• Seine Fähigkeit, das Surreale und Reale in der Musik auf packende Weise miteinander zu verbinden, nicht nur in seinen Konzertwerken, sondern vor allem auch in seinen Opern; sie sind für mich bis heute Modell und Vorbild. Seine Musik ist nicht nur intellektueller und kämpferischer Ausdruck einer Zeit (in seinem Fall sogar mehrerer Epochen), sondern auch Gehäuse für zarte Ausdrücke der Liebe und Hinwendung, schlicht-weg aller menschlich möglichen Gefühlsäußerungen, hingerissen und hinreißend. Ein starker Arbeiter im Weinberg der Töne, ein großer Einzelgänger und doch ein Komponist, dessen Musik Angebote macht; Angebote des Verstehens, Begreifens und Behaustseins.
• Immer wieder: die Nachtstücke und Arien; und die siebente Sinfonie. Auch beim wiederholten Hören noch ergreifend, die Partitur beim wiederholten Lesen noch nicht ausgelotet. Eine wunderschöne Sphinx, die mich auch noch in der Zukunft in den Bann schlägt.
• Freiheit von Schmerzen, viele gute Noten, Freude am irdischen Dasein und den immerwährenden Schutz der heiligen Cäcilie!
Detlev Glanert studierte u.a. in Köln bei Henze und arbeitete mit ihm bei dessen Festival in Montepulciano zusammen. Glanert zählt zu den in Deutschland erfolgreichsten Musikdramatikern.
MARKUS STENZ
• Hans Werner Henze ist seine Kunst. Kunst und Leben haben sich in seinem Schaffen stets bedingt. Das Faszinierende ist dies’ stete, disziplinierte, bedingungslose Ringen um die Kunst – um ein Werk. Seine Musik spiegelt Vielfalt, Breite und Tiefe menschlichen Daseins wider. Licht und Dunkel, Schönheit in archaischer Grausamkeit: Wie kein anderer vermag er die Fülle des Lebens so ergreifend in Musik zu übersetzen. Mich hat das ent-scheidend geprägt, nicht nur als Musiker, sondern menschlich.
• Ohne Zögern: »Die Bassariden«, weil in diesem monumentalen Opern- Opus die Prägnanz und Güte seines Schaffens geradezu kondensiert zu Tage treten. Freud und Leid, Rausch und Vernunft sind hier aufs Vollendetste und Bewegendste umgesetzt.
• In tiefer Verbundenheit wünsche ich ihm Gesundheit und Schaffenskraft. Con un carissimo abbraccio!
Markus Stenz ist Gürzenich-Kapellmeister und GMD der Stadt Köln; von 1989 bis 1995 war er musikalischer Leiter des Cantiere Internazionale d’Arte in Montepulciano.
CORD MEIJERING
• Die Frage nach der Faszination des Künstlers und Menschen Henze zu beantworten, ist mir nicht möglich, da wirkliche Faszination, im la-
teinischen Sinne, eine Behexung ist und sich somit jeglicher intellektuellen Analyse entzieht. Bereits viele Jahre, bevor ich ihm begegnete, fühlte ich mich beim Hören seiner Musik und Lesen seiner Texte in Bann geschlagen. Seitdem dauert der Zauber an, und der Verzauberte wird ihm nicht entrinnen.
• Sein gesamtes Werk, da es in Vielfalt den Zauber generiert. Ein Lie-bender entscheidet sich gegenüber dem Geliebten in seiner Liebe nicht für den Arm oder das Bein.
• Gesundheit, Gesundheit, Gesundheit! Schaffenskraft! Schaffenskraft! Schaffenskraft! Und drei Mal eine Frohe Zeit!
Der niederländische Komponist Cord Meijering studierte von 1983 bis 1986 bei Henze an der Kölner Musikhochschule.
ALBRECHT DÜMLING
• Henze fasziniert mich wegen seiner Verbindung von radikaler Subjektivität mit dem Gefühl der Verantwortung für seine Mitmenschen. Aus seiner ganz persönlichen Erfahrung wurde er zu einem politischen Komponisten, der mit seiner sprachähnlichen Musik neben der Erfahrung sinnlicher Schönheit auch Geschichtsbewusstsein vermittelt.
• Besonders nahe ist mir der Gesangszyklus »Voices«, in dem Henze mit 22 Gedichtvertonungen 17 Autoren aus aller Welt zu Wort kommen lässt. Aus der Unterschiedlichkeit der Äußerungen, denen ein Reichtum musikalischer Mittel entspricht, wächst eine gemeinsame Stimme hervor – die der Menschheit. Den Aufruf zur Brüderlichkeit aus Beethovens 9. Sinfonie machte Henze 1973 in einer Zeit des politischen Aufbruchs historisch konkret.
• Ich wünsche Gesundheit und viele gute Freunde, die seine Impulse aufgreifen und weiterführen.
Der Musikwissenschaftler und -kritiker Albrecht Dümling rekonstruierte 1988 die Düsseldorfer Ausstellung »Entartete Musik«.
MICHAEL KERSTAN
• Zunächst herrscht da eine unerbittliche Strenge sich selbst gegenüber; Henze verweigert sich seit jeher allen Klischees, Maschen oder Moden. Von seinen frühen Werken bis ins hohe Alter sucht er stets nach neuen persönlichen Ausdrucksmöglichkeiten und vermeidet es, sich zu wiederholen. Weiter versucht er nie, sich einem Publikumsgeschmack anzupassen, sondern leistet, das Publikum für seine Stücke zu begeistern, was oft weniger mit ästhetischen Fragen, vielmehr mit einer Haltung zu tun hat. Drittens hat sich Henze wie kein anderer um die Zukunft der Musik gekümmert, um musikalischen und Komponisten-Nachwuchs, die Weiter-
entwicklung des Musiktheaters, die Erweiterung des Orchester-Instrumentariums, um neue Veranstaltungsformen und darum, »(neue) Musik für Alle« zugänglich zu machen.
• Von den Bühnenwerken die Konzertoper »Phaedra«. Sie hat viel mit seiner Lebenssituation 2004-2006 zu tun, mit Rekonvaleszenz nach schwerer Krankheit; gleichzeitig ist die Musik von einer Leichtigkeit und enthält einen Humor, ja Witz, der über den Tod zu lachen scheint mit dem tieferen Verständnis eines Menschen, der schon in jenen Abgrund geblickt hat.
Henzes 9. Sinfonie ist mir sehr wichtig, weil sie ein Bekenntnis zum deutschen Antifaschismus darstellt, und das in einer Zeit, sieben Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung, als eine solche Haltung hierzulande nicht mehr besonders schick war und der Widerstand gegen den Nazifaschismus im Bewusstsein der Öffentlichkeit fast nur noch von Generälen betrieben worden sein soll. Mein Lieblingsstück bleibt jedoch seine 7. Sinfonie, weil sie in die Zeit fällt, als ich den Komponisten kennen gelernt habe und wir gemeinsam in Tübingen Hölderlins Spuren gefolgt sind.
• Noch viele Jahre und Werke bei bestmöglicher Gesundheit.
Der Regisseur, Dramaturg und Autor Michael Kerstan war langjähriger Assistent von Henze bei dessen kulturpädagogischen Projekten und bei der Münchner Biennale.
ROSALIE
• Charme, Humor, Esprit. Intuition und absolute Perfektion. Seine Vielseitigkeit. Sein künstlerisches Universum ohne Grenzen. Sein Senso-
rium für das ganz Andere. Seine subjektive Neugier nach dem Neuen, Jungen. In meinem Fall (»Die Kleine mit den Zöpfen nehm ich!«) legte er mir die ganze Welt zu Füßen: Münchner Biennale, Montepulciano (mit Fausto und Helen), Schwetzinger Festspiele, Staatstheater Stuttgart, unser Pollicino…
• »Wir erreichen den Fluss«: Anlässlich der Stuttgarter Premiere sind wir einander erstmals begegnet. Diese Offenheit, Großzügigkeit und Weltherz-
lichkeit, Lebens-Stil zwischen Largesse und Tendresse – (für mich) immer auch Agens seines Œuvres. Jedes Werk ein besonderes Geschenk: Bassariden, Elegie für junge Liebende, König Hirsch, Venus und Adonis, l’Upupa, Phaedra, Der junge Lord, Ondine…
• »Herr, gib ihm seine tägliche Intuition«, dass es ihm und Michael in Marino und allen sonstigen Gegenden der Welt, die ihm lieb sind, gut gehen möge. Glück und Erfolg mit »Gisela«. Auf dass seine schöpferische Phantasie, seine Musik für immer als Zeitpfeil in die Zukunft ragt. Lieber, sehr verehrter Hans, die Augenblicke Deiner Phantasie seien weiterhin die Festtage Deiner Jetztzeit.
Die Bühnen- und Kostümbildnerin Rosalie erarbeitete u.a. in den 1990er Jahren mit Alfred Kirchner Wagners »Ring« in Bayreuth.
SIEGFRIED MAUSER
• In seiner Persönlichkeit verbindet sich auf einzigartige Weise künstlerische Individualität mit einem politisch und sozial engagierten Mitbürger. Diese für ihn selbstverständliche Kombination, die sich in nahezu allen wesentlichen Aktivitäten widerspiegelt, hebt ihn letztlich von allen anderen Künstlerpersönlichkeiten ab.
• »Der junge Lord«: Es handelt sich um eines der wenigen Beispiele einer gelungenen Opera buffa der Neuen Musik, die Humor und Ironie spezifisch musiksprachlich auszudrücken weiß.
• Gesundheit und ausreichend Schaffenskraft.
Der Pianist Siegried Mauser hat Werke u.a. von Wolfgang Rihm, Jörg Widmann und Henze uraufgeführt. Mauser ist Präsident der Musikhochschule München.
JAN MÜLLER-WIELAND
• Sein Träumen. Sein Erzählen. Sein Witz. Aber: In jedem Witz steckt eine Katastrophe, hat George Tabori oft gesagt. Dies gilt auch fürs Henzes Musik.
• »Immolazione« von 2010. Die Tenor-Partie des kleinen Hundes! Der Hund, der für das Wahnsinnige der Menschen sein Hundeleben opfern muss. Das Stück beinhaltet u.a. die Furcht vor menschlichem Hochmut gegenüber der Tierwelt und dem Naturgemäßen.
• Die Würde des Alters auch zu genießen. Er geht sehr tapfer und klar mit seinem Alter um. Auch das ist eine große Leistung.
Jan Müller-Wieland nahm in Köln und Rom Kompositionsunterricht bei Henze.
JENS ROSTECK
• Seine Sonderstellung in der internationalen wie in der deutschen Nachkriegs-Musikgeschichte: seine tolerante mediterrane Attitüde, gepaart mit immer neuen Distanzierungs- wie Annäherungsversuchen hinsichtlich seiner deutschen Wurzeln. Hinzu kommen seine ungemein vielseitige Werkproduktion, seine nie versiegende Neugier und sein Eklektizismus, der schablonenhafte Zuordnungen und Festlegungen so schwierig macht.
• Zunächst »König Hirsch«: In dieser schier überbordenden Partitur findet Henze, Mitte der 1950er Jahre soeben im italienischen Exil heimisch geworden, wirklich zu sich selbst und entwickelt in toto seinen Personal-
stil: Italianità, Sinnlichkeit, großzügige vokale Linien, schwelgerische, aber nie zu dick aufgetragene Emotionalität. Ein Bekenntniswerk. Aus jüngerer Zeit womöglich »Gogo no eiko«: die souveräne Umarbeitung seiner Mishima-Adaptation »Das verratene Meer«. Ein bezwingendes Resultat, hervorgegangen aus der Beschäftigung mit brisanten Gegenwartsthemen, neuzeitlicher Exotik und sprachlicher Radikalität.
• Ungebrochene Schaffenskraft. Um seine Kardinaltugenden Beharr-lichkeit, Aufgeschlossenheit, Lebensfreude und Inspiration, seit Jahrzehnten in ausreichender Fülle vorhanden, braucht man sich hingegen keine Sorgen zu machen.
Jens Rosteck veröffentlichte 2009 die vielbeachtete Henze-Biografie »Rosen und Revolutionen«.
PETER RUZICKA
• Vielleicht hat Henze es als einer der letzten Komponisten vermocht, das »Weltganze« in seinem Werk abzubilden. Anspruch und Universalität seines Schaffens haben etwas Umgreifendes, seine Musik erscheint als moralische Instanz, der ästhetischen Wahrheit und der Erkenntnis verpflichtet.
• Ich studiere gerade das 2. Klavierkonzert von 1967, das ich am 24. Juni beim Klavier-Festival Ruhr dirigieren werde. Es ist mir seit einer von Henze selbst geleiteten Aufführung in Berlin sehr nahe: ein Werk, dessen verzehrende Intensität und Schmerzlichkeit in Henzes Instrumentalschaffen beispiellos zu sein scheint.
• Dass er noch einige Spätwerke schreiben möge, die er mir gegenüber schon erwähnt hat: einen großen Liederzyklus und ein oder zwei Streichquartette.
Der in Düsseldorf geborene Komponist, Dirigent und Intendant Peter Ruzicka hat u.a. bei Henze studiert; er leitet(e) neben anderem die Münchner Biennale, die Hamburger Staatsoper, die Salzburger Festspiele und das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin.