// Über Jahre hinweg war es ruhig in Stommeln. Richard Serra, Rebecca Horn, Rosemarie Trockel, Sol LeWitt – sie alle und noch mehr prominente Kollegen kamen hierher, um in der alten Synagoge an der Hauptstraße aktiv zu werden. Und keiner machte Rabatz. Still und besinnlich reagierte die Künstlerschar auf diesen besonderen Ort. Doch seit der Spanier Santiago Sierra 2006 im Rahmen einer – reichlich geschmacklosen – Aktion Autoabgase in das jüdische Bethaus leitete und für die Besucher Gasmasken bereithielt, weiß man, dass der kleine Ort nahe Köln durchaus gut ist für handfeste Kunstskandale.
Umso kühner die Künstlerwahl für 2008: Stommeln lud Maurizio Cattelan und riskierte damit erneutes Ärgernis. Denn es ist bekannt: Der Italiener provoziert gut und gern. Man denkt an den kleinen Adolf Hitler auf Knien, die Hände zum frommen Gebet gefaltet. Man denkt an den polnischen Papst als Wachspuppe mit schmerzverzerrtem Gesicht, niedergestreckt von einem wuchtigen Meteoriten. Auch könnten einem jene schockierend echten Kinderfiguren in den Sinn kommen, die wie am Galgen in der ältesten Eiche von Mailand baumelten.
Doch nichts dieser Art erwartet einen in Stommeln. Cattelan hält sich zurück – zumindest fürs Erste. Der 1960 in Padua geborene Künstler stellt bloß zwei alte ausgelatschte Wanderstiefel mitten im Raum auf den Boden vor den Thoraschrank. Sie sind gefüllt mit Erde und bepflanzt mit einem zartgrün belaubten Zweiglein. Das ist alles. Und was soll das surreal anmutende Arrangement bedeuten? Geht es vielleicht um Abschied, Wanderschaft, Flucht, um die Hoffnung eines neuen Anfangs?
Der Künstler selbst schweigt dazu, wie es seine Art ist. Er entzieht sich. Doch eines scheint klar: Es sind kaum eigene Schuhe, die er recycelt. Denn Cattelan steht eher auf schick als auf gemütlich. In pfeilspitzen, blau-metallic schimmernden Tretern sah man ihn durch Stommeln huschen, während in einer alten Scheune hinter der Synagoge die Eröffnungsfeierlichkeiten losgingen.
»Ich bevorzuge es, die Interpretation meiner Werke von anderen zu borgen«, bemerkte der Meister einmal. Gelegentlich beschäftigte er sogar ein Double, das an seiner Stelle Interviews gab. Diesmal überließ er die Deutung, ganz seriös, Chris Dercon, dem Leiter des Hauses der Kunst in München. Und der hielt in seiner Eröffnungsrede eine sehr einleuchtende Auslegung bereit: Das Schuhwerk, so Dercon, weise auf die christliche Legende vom Schuhmacher Ahasveros hin, der Jesus auf dem Kreuzweg eine kurze Rast vor seinem Haus verwehrt hatte und dafür zu endloser Wanderschaft verdammt worden war. Noch die Nationalsozialisten begründeten ihren Judenhass mit dieser Legende – davon zeugt der 1941 gedrehte Propaganda-Film »Der ewige Jude«.
Aber das ist noch nicht alles: Cattelan spinnt sein nicht ganz unkompliziertes Beziehungs-Geflecht in Stommeln ein ganzes Stück weiter. Denn er verlässt mit seiner Kunst, ausnahmsweise, die vier Wände des inzwischen schon traditionellen Kunstortes. Wie die Gemeinde nach einem jüngeren Brauch jedes Frühjahr von der Synagoge aus zur alten katholischen Kirche Sankt Martin zieht, um das Osterfeuer zu entzünden, so lässt Cattelan nun auch das Kunstpublikum hinauf spazieren. Über die Bahngleise, gemeinhin verstanden als Hinweis auf die Deportation, führt der Weg auf den Friedhof vor die Tore des Gotteshauses, wo dann doch noch ein bisschen Provokation wartet.
Dort nämlich hängt, an die Kirchenmauer genagelt, Teil zwei des Projekts: Eine gemarterte Frau im weißen Hemd. Cattelan hat die Ärmste mit hölzernen Vorrichtungen brutal in einer hölzernen Transportkiste fixiert und präsentiert sie weit oben an der Wand. Die hyperrealistische Wachsfigur kehrt uns den Rücken zu, zeigt aber ihre von Nägeln durchbohrten Handflächen und öffnet symbolischen Assoziationen jeder Art Tür und Tor.
Vergleichsweise konkret und offenkundig scheint die Verbindung zwischen Cattelans Märtyrerin und Christina von Stommeln. Eine mittelalterliche Mystikerin, die – zu Lebzeiten völlig unverstanden – von den Dorfbewohnern ausgestoßen wurde und erst Jahrhunderte später zu Ehren kam. Die Frau in der Kiste korrespondiert bestens mit dem historischen Denkmal der Seligen im neugotischen Gehäuse auf der anderen Seite des Kirchturms.
Cattelan ist kein Leisetreter. Und Ziel seiner Provokationen war in den vergangenen Jahren auch immer wieder die katholische Kirche. Ein Grund mehr, sich zu wundern und zu freuen über die mutige Mitwirkung ebendieser Kirche bei der gewagten Intervention.
Wie üblich, lieferte der Künstler auch in Stommeln nur die Idee; ihre Umsetzung übernahmen professionelle Puppenmacher. Cattelan kennt kein Atelier, er ist immer auf Achse zwischen New York und Mailand. Die Einfälle kämen ihm beim Telefonieren, so heißt es. Und telefonisch verteile er auch die Aufträge und Anweisungen an Mitarbeiter. Einmal ließ er einen Galeristen mit Tesa-Film an die Wand kleben, bis er fast erstickt wäre. Ein anderer wurde, auf Cattelans Geheiß, als pinkfarbener Penis verkleidet und musste so tagelang in der eigenen Galerie herumhüpfen.
»Clown«, »Schelm«, »Witzbold« wurde Cattelan genannt. Auch bei seinem frömmelnden »Führer« und beim himmlischen Attentat auf Johannes Paul II. konnte man sich das Lächeln kaum verkneifen. Doch angesichts der modernen Kreuzigung an Sankt Martinus bleibt die Heiterkeit im Halse stecken. Cattelan, der respektlose »Hofnarr« – in Stommeln hat ihn der Ernst eingeholt. »Komiker machen sich über die Realität lustig«, so hat er selbst einmal gesagt. »Ich glaube aber, dass die Realität sehr viel provokativer ist als meine Kunst.« //
Bis 10. August 2008. Synagoge Stommeln, Hauptstraße 85, Pullheim. Geöffnet Do.–Sa. 16–19, So. 13–19 Uhr.