Der 75. Todestag des belgischen Malers James Ensor (1860-1949) gibt Anlass, den Symbolisten, der an der Schwelle der Moderne steht, zu feiern. In seiner Heimatstadt Ostende und in Brüssel gab es bereits eine Reihe von Ensor-Ausstellungen. Jetzt zieht Antwerpen nach.
James Ensors Œuvre gleicht einem Füllhorn – es ist so prall gefüllt, dass Belgien im Jubiläumsjahr mit knapp zehn Ausstellungen rund um den Meister aufwarten kann, ohne dass es dabei zu Wiederholungen kommt. Ensor schuf Landschaften, Seestücke, Stadtansichten und Interieurs. Er hinterließ mythologische, biblische sowie historische Szenen. Dem Porträt widmete er ebenso viel Aufmerksamkeit wie dem Massenaufmarsch. Berühmt ist seine Vorliebe für Masken und Skelette. Und sein Faible für den Karneval in Flandern.
Für Fans des Pioniers der Moderne ist ein Besuch Antwerpens in diesem Herbst ein Muss. Nicht zuletzt deshalb, weil die Stadt an der Schelde mit der größten Ensor-Sammlung der Welt aufwarten kann – sie befindet sich im Königlichen Museum der Schönen Künste (KMSKA). Und durch vier bemerkenswerte Sonderausstellungen zum Ensor-Jahr. Schauplätze sind neben dem KMSKA das ModeMuseum (MoMu), das FOMU – Fotomuseum und das Museum Plantin-Moretus. Wer den Künstler inspirierte, wird in diesen Präsentationen ebenso dargelegt wie die Einflüsse, die der Avantgardist auf nachfolgende Generationen ausgeübt hat.
Aus dem Jahr 1882 stammt sein Gemälde »Die Austernesserin«. Das im KMSKA befindliche Frühwerk, wegen des delikat gemalten Arrangements von Speisen und Getränken eher ein Stillleben als eine Figurendarstellung, beeindruckte den Schriftsteller Émile Verhaeren so sehr, dass er den jungen James Ensor mit Édouard Manet verglich. Also mit einer Schlüsselfigur des französischen Impressionismus.
Die Sonderausstellung im KMSKA, »Ensors kühnste Träume. Jenseits des Impressionismus« (28. September bis 19. Januar 2025), vergegenwärtigt manche Berührungspunkte zwischen Ensors Kunst und der Malerei der Impressionisten, etwa von Edgar Degas, Claude Monet, Pierre-Auguste Renoir und Camille Pissarro. Zugleich hebt die von Herwig Todts und Adriaan Gonnissen kuratierte Schau das Trennende hervor: Denn seine Vorliebe für Masken und Satire, für Surreales und Abgründiges unterscheidet Ensor grundlegend von den impressionistischen Maler*innen. Als Wahlverwandte weit eher in Betracht kommen Hieronymus Bosch und Francisco Goya.
Um seine »kühnsten Träume« in der Kunstwelt Wirklichkeit werden zu lassen, wandte sich James Ensor auch religiösen Themen zu. Die Ausstellung im KMSKA wirft ein besonderes Augenmerk auf das dortige Gemälde »Vertreibung aus dem Paradies« und die farbige Zeichnung »Die Versuchung des Heiligen Antonius« aus dem Art Institute Chicago. Expressive, dynamische Linienführung und die groteske, teils furchterregende Ikonographie weisen voraus auf die Klassische Moderne, die mit der vorwiegend heiteren Weltsicht der Impressionisten bricht.
Als »Maler der Masken« ist James Ensor in die Kunstgeschichte eingegangen. Die Ausstellung im KMSKA vergleicht dieses Charakteristikum seines Werkes mit anderen Künstlern des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die ebenfalls von ihnen fasziniert waren. Emil Nolde ist wohl der bekannteste unter ihnen. Allerdings zitierten die meisten Künstler*innen Masken vornehmlich als dekoratives Element. Oder als Schutzschild, hinter dem jemand sein Wesen verbirgt. Bei Ensor verhält es sich genau umgekehrt: In der Maske sah er ein Medium, das die wahre Natur des Menschen zum Ausdruck bringt.
Um Camouflage und Metamorphosen geht es auch in einer multimedialen Ausstellung, die das Antwerpener Modemuseum (MoMu) zum Ensor-Jubiläum beisteuert. »Maskerade, Schminke & Ensor« (28. September bis 19. Januar 2025) präsentiert Make-up-Artists und Künstler*innen, die sich mit Gesichtsfiltern, gestörten Körperbildern und dem Ritual des Schminkens befassen. Hierfür hat das MoMu mit der Plattform Beauty Papers kooperiert. Drei Video-Installationen bringen Ensors Mummenschanz in Verbindung mit aktuellen Verfremdungsstrategien durch Schminken und Mode.
Wer Maske und Kunst sagt, muss Cindy Sherman sagen. Die amerikanische Foto- und Filmkünstlerin hat die Maske geradezu zu ihrem Leitmotiv erkoren. Weibliche Rollenbilder und Stereotype aus Medien, Werbung und Kunstgeschichte will sie auf diese Weise entlarven. Davon kann man sich im FOMU – Fotomuseum Antwerpen überzeugen. Es zeigt die erste große Soloschau der Verwandlungsvirtuosin in Belgien. Mit mehr als 100 Werken von den 70er Jahren bis heute gibt »Cindy Sherman. Anti-Fashion« einen umfassenden Überblick (28. September bis 2. Februar 2025). Von Shermans Affinität zu Schock und Horror lässt sich in der Tat eine kunsthistorische Linie ziehen zu blutrünstigen Ensor-Gemälden wie »Der Mord« (1890) oder »Die niederträchtigen Vivisekteure« (um 1930).
Die vierte Schau im Reigen der Antwerpener Ensor-Hommagen geht im Museum Plantin-Moretus über die Bühne. Es vereint das ehemalige Wohnhaus und die Druckerei der Familie Plantin-Moretus – in der Geschichte des Buchdrucks, der mit der Renaissance aufkam, hat sie eine herausragende Rolle gespielt. Radierungen und Lithografien stehen im Mittelpunkt der Ausstellung »Ensors Zustände der Phantasie« (28. September bis 19. Januar 2025). Ähnlich wie Rembrandt schätzte Ensor die Druckgrafik als Medium für experimentelle Herangehensweisen.
Im Museum Plantin-Moretus demonstrieren Vorzeichnungen, Kupferplatten und verschiedene Zustände von Drucken, dass der Künstler Lithografie und Holzschnitt ebenso beherrschte wie die Radierung. Dieses Tiefdruckverfahren, bei dem eine Zeichnung in eine Metallplatte geritzt oder geätzt wird, so dass die Linien beim Druckvorgang Farbe aufnehmen, brachte er besonders häufig zum Einsatz. Schon der junge Ensor hatte erkannt: »Übung macht den Meister! Besonders beim Ätzen.«
Infos zu den Ensor-Ausstellungen in Antwerpen: