TEXT: STEFANIE STADEL
Alles dicht. Schwarzer Filz vor den Fenstern sperrt den freundlichen Frühlingstag aus. In Ludwig Mies van der Rohes wunderbaren Villen hat die Sonne nichts zu suchen. Denn Kandor – Supermans Heimatstadt – ist eingezogen und leuchtet sozusagen von innen. Magisch, in den allerschönsten Tönen – rot, blau, pink, ocker, orange. Mike Kelleys Arrangements in den Museen Haus Lange und Haus Esters sind unheimlich und verführerisch zugleich: riesige bunte Flaschen auf Podesten, jede sieht anders aus. Darin wundersam schillernde Phantasie-Städte aus Gießharz.
Farblich abgestimmt sind saubere Sauerstoffflaschen und Schläuche, die das Innere der gläsernen Hüllen zu beatmen scheinen. Auch bringen Video- und Audio-Animationen überall Leben in jenes rätselhafte Reich. Sphärische Klänge sausen einem um die Ohren. In animierten Cartoons lassen Schreie, Gurren und Gelächter die Flaschen erzittert. Und wandfüllende Projektionen zeigen, wie kleinste Partikel durch die transparenten Behältnisse wirbeln.
Die Heimat des Comic-Helden treibt Kelley schon seit gut zehn Jahren um: »Was mich an Kandor am meisten interessierte, war, dass die Beschreibung dieser Stadt keine Kontinuität erkennen lässt.« In den Heftchen schaut sie immer wieder anders aus. Ein schwammiges Konstrukt, das offenbar sehr anregend auf die Phantasie des Künstlers wirkt. Die Comic-Vorlage vor Augen, gestaltete er mit Hilfe seines inzwischen auf 17 Mann angewachsenen Mitarbeiter-Stabs diverse Versionen jenes unbestimmten Ortes. Mal schauen Kandors Bauwerke aus wie Stalagmiten in einer Tropfsteinhöhle, mal wie kitschige Parfüm-Flakons, und ganz oft sollen sie offensichtlich an phallische Formen erinnern. Zum Mikrokosmos in der Flasche passen Filme, die per Zeitraffer das wundersame Wachstum bunter Kristalle in haushaltsüblichen Bechern oder Schüsseln dokumentieren, untermalt von einem »New Age«-Soundtrack, den Kelley eigens komponiert hat.
In bisher nie gesehener Breite führt die Schau in Krefeld Ergebnisse seiner Kandor-Obsession vor. Füllt dazu Haus Esters und Haus Lange mit den multimedialen Produktionen. Der Kölner Top-Galerist Rafael Jablonka hat die auf dem Kunstmarkt hoch gehandelten Stücke gestellt – ihren Aufbau in Krefeld soll der Künstler persönlich vom Atelier in Los Angeles aus über Wochen per Videoschaltung überwacht haben. Dabei herausgekommen ist eine glatte Geschichte, die auf den ersten Blick ganz anders anmutet als jene Plüsch-Schocker, mit denen Kelley in den Achtzigern das Publikum verstört und seine Karriere in Gang gebracht hat.
Damals suchte der Anarcho-Künstler sein Material noch auf Flohmärkten und in Secondhand-Läden zusammen: Abgeliebte, angeschmuddelte Kuscheltiere, die er bald zu Ketten vernähte, bald als Knäuel verknotete, gelegentlich auch obszön in Pose brachte. Was witzig wirkt, zielt viel weiter – auf die Schattenseiten der vermeintlich unbeschwerten Kindheit. Und trifft mit subtiler Ironie die saubere amerikanische Gesellschaft. Immer wieder erinnerte man an Kelleys streng katholische Erziehung im Arbeitermilieu eines Detroiter Vororts.
Manch einer vermutete, der Künstler arbeite in seinen emotional aufgeladenen Schmuse-Stücken die eigene Vergangenheit auf, sei womöglich als Kind missbraucht worden. Glatt und schön war nichts in diesen Arbeiten. Alles trashig. Um Abgründe aufzutun, langte Kelley tief in die Tonne. Anders in den aktuellen Arbeiten. Mit Kandor holt er die Sterne vom Himmel und füllt sie ästhetisch herausgeputzt in Flaschen, die übrigens allein ihrer Größe wegen als echte Wunderwerke der Glasbläserkunst gelten können.
Gut für Überraschungen ist Kelley allenthalben. In Deutschland stellte der Künstler dies zuletzt 2007 unter Beweis, als er bei den »Skulptur Projekten Münster« mit Kuh, Ponys und Ziegen einen Streichelzoo einrichtete und mitten drin einen großen salzigen Leckstein platzierte – weiblich geformt, in Erinnerung an Lots zur Salzsäule erstarrte Frau. Es solle, so erklärte er seinerzeit, bei der ganzen Sache um Zärtlichkeit, Abhängigkeit und Sodomie gehen.
Allein mit Blick aufs bisherige Schaffen liegt es nahe, dass es dem 56-Jährigen auch in seinen Kandor-Rekonstruktionen bei weitem nicht bloß um möglichst getreue Übersetzungen der Comic-Vorlage in die dritte Dimension gegangen sein kann. Wie schon bei den Stoffbärchen und -häschen sind es auch hier wieder verbogene Erinnerungen, die der Freud-Kenner im Visier hat.
Ein kurzer Rekurs auf Supermans Biografie reicht, die psychologischen Hintergründe zu erkennen: Als Kind nämlich war der Held zur Erde gesandt worden, damit er dort die vollständige Zerstörung seines Heimatplaneten Krypton überlebe. Viel später wird der Heimatlose gewahr, dass Kandor heil geblieben ist und, von einem Bösewicht auf Miniformat geschrumpft, weiterexistiert. Er bringt seine Geburtsstadt in seinen Besitz, verwahrt sie samt ihrer Bewohner unter einer Glasglocke, wo sie, wie Kelley selbst ausführt, »als ständige Erinnerung an seine Vergangenheit und als Metapher für sein entfremdetes Verhältnis zu dem jetzt von ihm bewohnten Planeten fungiert.« Welch ein Trauma.
Ob Comic-Heft, Plüschtier oder Streichelzoo – immer wieder greift Kelley auf banale Motive aus der Kinderwelt, aus der amerikanischen Freizeit- und Popkultur zurück. Offenbar bestrebt, das Abgründige im Harmlosen aufzudecken, das Unheimliche im Banalen. Dazu reicht schon ein einziges vertontes Comicbildchen auf dem Flachbildschirm: Es zeigt die Glashaube, unter der man Kandor vermutet. Schrille Schreie bringen das Glas in regelmäßigen Abständen zum Beben. Wieder und wieder und wieder. Am Ende ist man froh, die Museumstür hinter sich schließen und den freundlichen Frühlingstag genießen zu können.
Museen Haus Lange und Haus Esters, Krefeld; bis 19. Juni 2011; Tel. 02151/975580. www.kunstmuseenkrefeld.de