April 1945. Bergen-Belsen. Ein letzter Abtransport von Gefangenen, aufgeteilt in drei Zügen. Die Nazis nennen die Insassen »Austausch-Juden«, die ihnen womöglich als Faustpfand dienen sollen. Bei Tröbitz in der Nähe von Dresden bleibt der letzte Zug auf freier Strecke stehen, die SS-Wachleute flüchten. Die Gefangenen sind frei bzw. ihrem Schicksal überlassen. Die Rote Armee schaut vorbei, hat aber weder etwas zu essen noch Medikamente für die aus dem Lager Gekommenen. Stalins Siegern wäre es lieber gewesen, wenn der Zug es bis zu den Amerikanern geschafft hätte. Im nächstgelegenen Dorf sollen sie sich etwas holen. Die sowjetischen Soldaten sind auch schon da, während Goebbels im Radio noch zum Kampf ermuntert oder Zarah Leander zum Durchhalten schunkelt. Der Ort wird den befreiten Häftlingen zur Verfügung gestellt. Die deutschen Bewohner haben ihn zu räumen, keinerlei Ansprüche zu stellen und Hilfsdienste zu leisten.
Das ist alles von der Niederländerin Saskia Diesing historisch vermutlich ohne Fehl und Tadel, aber auch sehr vorhersehbar, brav und freundlich belichtet erzählt und illustriert: Häftlinge, so ordentlich gekleidet, wohl genährt und bei Kräften wird es nicht gegeben haben, wir haben aus dokumentarischen Quellen die lebenden Skelette vor Augen, apathisch oft angesichts des Unbegreiflichen und äußerlich ihres Menschseins beraubt. Da stimmt noch einiges mehr nicht. Das Hitler-Porträt wird niemand an der Wand mit der Hakenkreuztapete hängen gelassen haben, als man wusste, dass die Russen oder Westalliierten einmarschieren würden. (In Edgar Reitz’ »Heimat«-Chronik sehen wir solch eine Szene.) Wenn der Führer hier das Zimmer schmückt, ist das Dekoration, die Authentizität vorspielen soll, aber das Gegenteil bewirkt, auch und gerade wenn sein Bild schließlich effektvoll von einer Russin verbrannt wird. Hegel spricht von der »Außengestalt der alten Zeit«, die allenfalls stimme, bei der Rekonstruktion von Vergangenheit aber dürfte es nicht ohne »Kollision« abgehen. Hier kollidiert nichts, hier läuft es gut geschmiert. Gerade deshalb wirkt falsch, was sich in aller Seriosität um Richtigkeit bemüht.
Die junge russische Scharfschützin Vera (Eugénie Anselin), zwei befreite jüdische Holländer, Simone (Hanna van Vliet) und der fieberkranke Isaac, der die Namen der Toten repetiert und sich auf den Appellplatz im Lager traumatisch zurückphantasiert, und das deutsche Hitler-gläubige Mädchen Winnie (Anna Bachmann), deren Mutter erschossen auf der Dorfstraße liegt und die nur knapp der Vergewaltigung durch zwei russische Soldaten dank Vera entgeht, wohnen nun für eine Weile gemeinsam in einem Haus: Sieger, Besiegte, Befreite.
Fleckfieber bedroht die Menschen. Die Haare müssen geschoren werden, viele liegen isoliert in Quarantäne. Das Rote Kreuz kann wegen der zerstörten Elbe-Brücke nicht helfen. Moskau schickt Listen, die ausgefüllt werden sollen, um Menschen zu deportieren, die in der ausgebluteten Sowjetunion gebraucht werden könnten. Auf dem Friedhof fehlen Särge für die Leichen, ob derer aus dem Zug, ob von zu Tode gekommenen Einheimischen.
So gehen in »Der verlorene Zug« die Schicksalsgeschichten von Rache, Schuld, Vergeben und Nöten, in denen weibliche Solidarität sich über ideologische und nationale hinwegsetzt. Am Ende erreichen die Amerikaner das Dorf und nehmen die ehemaligen Häftlinge, darunter Simone, die soeben Witwe wurde, mit – in den freien Westen. In eine offene Zukunft.
»Der verlorene Zug«: Premiere am 19. April, Aachen, Apollo-Kino, mit der Regisseurin Saskia Diesing und den Hauptdarstellerinnen; NL / Lux / D 2022, 101 Min,. Start: 27 April