TEXT: ANDREAS WILINK
John May ist der Archivar des Todes und der Toten, ein Angestellter für die letzten Verrichtungen. Er inspiziert die Wohnungen Gestorbener, die allein lebten, sortiert den Nachlass, legt Dossiers an, organisiert die Trauerfeier, den Sarg und den Friedhofsplatz, sucht nach möglichen Angehörigen (mal gibt es einen Sohn, mal nur Hund oder Katze, mal niemanden), wählt eine passende Musik, gönnt der Asche Ruhe, bevor er sie verstreut. Seit 22 Jahren arbeitet er für die Stadt London. Sein kleines Büro ist ebenso penibel aufgeräumt wie seine Wohnung. Alles liegt an Ort und Stelle, jeder Zentimeter ist genau bemessen. Mr. May trägt stets eine Aktentasche bei sich und ist dezent angezogen. Ein unauffälliger Mann, etwas scheu, vorsichtig und äußerst gewissenhaft.
Ein Mensch, so einsam wie die, um deren letzte Ruhe er sich kümmert. Vielleicht deshalb erfüllt er seine Aufgabe sorgsam und nahezu zärtlich, legt sich die Rede in der Friedhofskapelle zurecht, die er an Hand der zumeist wenigen Gegenstände und persönlichen Informationen verfasst. Zuhause hat er ein Album mit den Fotos der »Fälle«, die er abschließen konnte; er schaut sie sich oft an. Es sind seine unbekannten Freunde, seit er einen Fingerabdruck in einer Dose mit Creme oder den Abdruck des Kopfes auf einem Kissen gesehen hat. Sein Blick hält jedes Detail fest. Einen Sessel, dessen abgebrochener Fuß durch einen Stapel Bücher ersetzt wurde, sieht er bei einem Toten und später in der gleichen Weise provisorisch repariert bei dessen Tochter, die zu dem Vater kaum Kontakt hatte und nichts von ihm wissen will.
Eddie Marson hat ein melancholisch trauriges Gesicht, wie das von Peter Lorre. Darin eingegraben ist das Wissen um das Leiden in der Welt. Einmal wird ihm eine Adresse mitgeteilt, die zu seinem eigenen Wohnblock gehört, genau gegenüber seinem Apartment. Ihm ist, als würde sich da drüben, in den schäbig ranzigen Zimmern, das eigene Schicksal spiegeln. Ein gewisser Stroke, ein Trinker und Krimineller, hat dort armselig gelebt. Er wird Mr. Mays letzter Fall sein, denn man hat ihm gekündigt. Nicht effizient genug. Sein Job lässt sich fixer erledigen; die Nachfolgerin schüttet die Behälter mit der Totenasche ruckzuck aus. Keine unnötigen Gefühle.
Mr. May, der vielleicht glaubt, an Stroke etwas wiedergutmachen zu müssen, recherchiert, bis er dessen Tochter, eine Ex-Geliebte, Freunde, Kollegen und Gefährten von früher ausfindet gemacht und diese mit seiner leisen Beharrlichkeit für den Toten gewonnen hat. Schließlich überlässt er dem Anderen sogar den eigenen, schon erworbenen Grabplatz mit schöner Aussicht. Als Mr. Mays Leben gerade beginnt, eine mögliche Zukunft zu erhalten, bricht es abrupt ab. Ein einsamer Tod, der ihm wohl immer schon vor Augen gestanden hatte. Niemand begleitet ihn auf seinem letzten Gang. Aber bei Stroke stehen zur selben Stunden viele Leute, Mr. May sei Dank. Die Juden würden sagen, hier starb ein »Mentsch«. Die Toten aber, denen er selbstlos gedient hat, kommen an sein Grab, um ihn zu betrauern – in diesem traurigsten Film seit langem.
»Mr. May und das Flüstern der Ewigkeit«; Regie: Uberto Pasolini; Darsteller: Eddie Marsan, Joanne Froggatt, Andrew Buchan; GB/Italien 2013; 87 Min.; Start: 4. September 2014