TEXT: GUIDO FISCHER
Hilary Hahn beherrscht ihr Instrument nahezu in allen Lebenslagen, etwa in klassischer Yoga-Haltung oder mit einem Hulahoop-Reifen um die Hüften. Mit diesen etwas anderen Violin-Etüden vertreibt sich die Amerikanerin in ihrem nomadenhaften Künstlerdasein schon mal die Zeit unterwegs. Auf dem Konzertpodium dreht Hahn auf ihrer wertvollen Vuillaume-Geige dann spieltechnisch makellose Pirouetten. Von Bach bis Schönberg zieht diese porzellanpuppenhafte Erscheinung von lyrisch kostbar bis motorisch packend alle Register großer Violinkunst. 32 Jahre alt, hält sie schon ihr halbes Leben lang dieses verblüffend hohe Niveau.
Dabei blieb sie das Gegenteil des unnahbaren Glamour-Stars. Sie beantwortet auf ihrem Laptop Fanpost, schickt von Tourneen digitale Postkarten in die Welt und ist – ob Youtube, Facebook, Twitter – ein Online-Junkie. Über diese Kommunikationskanäle erfährt sie auch, was sich musikalisch Neues tut. Das galt auch für den von ihr initiierten Wettbewerb.
Für ihr Projekt »27 Pieces: the Hilary Hahn Encores« hatte sie 26 namhafte, ganz unterschiedliche Komponisten wie Elliott Sharp, Valentin Silvestrov und Mark-Anthony Turnage eingeladen, für sie Zugabenstücke zu schreiben. Über ihre Website konnte man sich bewerben. Mit der folgenden Resonanz hatte Hahn nicht gerechnet. Über 400 Komponisten hatten Werke für Violine und Klavier eingeschickt. Als alleiniger Juror schaute sie sich mehrere Monate die Partituren an und hörte die eingesandten Audio-Files durch. Ihre Wahl fiel auf den aus Honolulu stammenden Jeff Myers, der sich von Vogelgesängen seiner Heimat hatte inspirieren lassen.
Myers »The Angry Birds of Kauai« gehört zu den ausgewählten »Encores«, die Hilary Hahn bei ihren aktuellen Auftritten spielt. Auch beim Konzert in Münster, das sie mit dem Pianisten Cory Smythe gibt und für das sie eine Violinsonate von Beethoven auswählte sowie eine Sonate von Bach, mit dessen Solo-Werken die 16-Jährige ihr diskografisches Debüt absolviert hatte. Seither setzt sich Hahn für die Seitenränder des Repertoires ein, etwa für Louis Spohr und die Sonaten von Charles Ives, ohne dass die Klassiker zu kurz kämen.
Dazu gehört Mozart, von dem sie einige Violinsonaten eingespielt hat, während seine Violinkonzerte sie erst seit einigen Jahren intensiv beschäftigen. Mit Paavo Järvi und der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen spielt sie in Essen und Köln jetzt Mozarts 5. Violinkonzert. Angesichts von Hahns Zartheit und Sensibilität in der Farbgebung sowie ihrer Aufrichtigkeit und körperlichen Tonfülle darf man eine Sternstunde erwarten.
Mit den Violinkonzerten des Salzburgers ist Hahns Landsmännin Tai Murray um einiges länger vertraut. Als Neunjährige debütierte sie beim Chicago Symphony Orchestra mit dem 4. Violinkonzert. Es gibt Gemeinsames bei den zwei Geigerinnen einer Generation. Beide wurden an amerikanischen Kaderschmieden ausgebildet, am Curtis Institute of Music in Philadelphia und an der New Yorker Juilliard School. Hahns und Murrays Lehrer gingen noch beim legendären belgischen Geigenvirtuosen Eugène Ysaÿe in die Schule. Ziemlich identische Startbedingungen also.
Ihre Karrieren aber haben sich dann konträr entwickelt. Während Hahn früh der Sprung vom Talent zum Weltstar gelang, gilt die 30-jährige Murray in Europa als »Spätgeburt«. Ihre beeindruckende Debüt-CD veröffentlichte sie in diesem Jahr – in einem Alter, in dem Hahn vielfach preisgekrönt war.
Die Vermutung, Murrays afro-amerikanische Wurzeln hätten den Durchbruch verzögert, wäre indes irrig. Die Lady mit den Rasta-Locken ist heute zwar die einzig bedeutende Geigerin schwarzer Hautfarbe. Ihren Weg hat die aus Chicago stammende Musikerin jedoch freiwillig gemächlich beschritten, obwohl sie – wie Hilary Hahn – als Wunderkind galt. Konzentriert auf ihre Ausbildung, wurde die nach der philippinischen Eisläuferin Tai Babilonia benannte Tochter einer Lehrerin vor allem von der Großmutter gefördert. Zehn Jahre lang fuhr sie ihre Enkelin zum Geigenunterricht ins 200 Kilometer entfernte Bloomington. »Einerseits ein großes Opfer«, so Murray, »andererseits einfach eine Einstellungssache: Was können wir alle gemeinsam tun, damit sich die Tür für unser Kind öffnet?«
Nach der New Yorker Hochschulzeit stellten sich die ersten Erfolge ein; 2004 wurde sie mit dem »Avery Fisher Career Grant« ausgezeichnet. Gefolgt von Einladungen an die großen Konzerthäuser in den USA und auch nach London. Inzwischen sie nach Berlin umgezogen, um Europa zu erobern. Mit ihrer Einspielung der sechs Violinsonaten von Eugène Ysaÿe, die von gespreizter Spätromantik bis zum Neo-Paganini-Schwung vieles abfordern, legte sie ein ideales Fundament. Bei ihren Gastspielen mit Ysaÿe, Debussy und Schubert wird sie live zu Höhenflügen und Loopings ansetzen. Ihrer Geige von 1686 hat sie den verheißungsvollen Spitznamen »Spitfire« gegeben.
Hilary Hahn 1. Dezember 2012 Philharmonie Essen, 2. Dezember Philharmonie Köln, 1. Januar 2013 Universität Münster.
Tai Murray 6. Dezember 2012 Rathausfestsaal Münster, 8. Dezember Helmut-Hentrich-Saal (Tonhalle) Düsseldorf.