TEXT: ANDREJ KLAHN
Ausgerechnet der Mann, von dem alle dachten, er hätte zumindest eine vage Ahnung davon, worüber gesprochen wird, zeigte sich demonstrativ verwirrt: Ob irgendwer verstanden habe, was »Urbane Künste Ruhr« eigentlich seien, fragte Thomas Laue vom Bochumer Schauspielhaus. Als Chefdramaturg unter Anselm Weber hat Laue dort und in seiner Zeit in Essen maßgeblich dafür gesorgt, das Theater für Themen zu öffnen, die die Stadt beschäftigen. Doch was urbane Künste sind, wusste auch er nicht. Das war Ende August, als sich die neue Programmsäule der Kultur Ruhr GmbH der Öffentlichkeit mit einem zweitägigen Symposium vorstellte. Ein Spaziergang durch Bochum stand auf dem Programm, das Off-Theater »Rottstr 5« zeigte einen Ausschnitt aus seiner Fassung von Goethes »Werther«, die Street-Art-Kompanie »Renegade« brachte eine Tänzerin und einen BMX-Radfahrer zusammen, man diskutierte über die Balance zwischen institutionalisierter und freier Szene, über Kreativität und ihre Bewirtschaftung, und im Kunstmuseum stieß jemand vogellautähnliche Schreie aus und zellophanierte sich währenddessen den Kopf. Fluxus-Performance. Ratlose Gesichter.
All das ließe zunächst vermuten, dass im Ruhrgebiet für alte Themen ein neues Gewand namens »Urbane Künste Ruhr« reklamiert wird. Und irgendwann steht dann eben das als Dramaturg verkleidete Kind auf und ruft der Menge zu: Aber der Kaiser ist ja nackt! Doch die Geschichte geht anders. Die neuen Kleider sind fertig. Was gesucht wird, ist der Kaiser.
»Bei der IBA Emscherpark haben wir die Industriekultur erfunden«, sagt Katja Aßmann, die seit Februar 2012 als künstlerische Leiterin der »Urbanen Künste Ruhr« fungiert, für die IBA Emscherpark tätig war und vor zwei Jahren auch das Ruhr.2010-Themenfeld »Stadt der Möglichkeiten« als Projekt- und Programmleiterin bestellt hat. »Wir haben die Landmarke als Begrifflichkeit geprägt, ein Wort, das kunsthistorisch überhaupt nicht verankert ist. Wir haben es kreiert, dann wurde etwas dazu gemacht und auf einmal stand die Serra-Halde für Landmarken-Kunst. Mit den ›Urbanen Künsten Ruhr‹ möchte ich etwas Ähnliches versuchen.«
EINEN TEIL DES ERBES AUSGESCHLAGEN
Im Perspektivpapier, in dem das Land und der Regionalverband Ruhr die Nachhaltigkeitsarchitektur für die Zeit nach dem Kulturhauptstadtjahr skizzieren, heißt der von Katja Aßmann nun verantwortete Bereich noch »Künste im urbanen Raum«. Neben der Ruhrtriennale, dem Chorwerk Ruhr und der Tanzlandschaft Ruhr bildet er die neue, vierte Programmsäule der Kultur Ruhr GmbH. Inhaltlich, so die Vorgabe, sollen die »Künste im urbanen Raum« den großen künstlerischen Teil des Ruhr.2010-Erbes antreten. Ins Portfolio gehört auch, viele der während des Kulturhauptstadtjahres gesponnenen Fäden zu einem neuen, starken und möglichst spartenübergreifenden Netzwerk zu verflechten, darunter die Ruhrkunstmuseen, die Theater des Reviers, die Soziokultur oder etwa interkulturelle Initiativen. Was letztendlich heißt, dass irgendwie alle und alles eingebunden werden müssen.
Doch Katja Aßmann zeigt nicht nur ein feines Gespür für den Wert präzise geprägter Begrifflichkeiten. Sie weiß auch, wie Begriffe auf Inhalte zurückwirken können. Die Umbenennung des Programmbereichs zeigt, dass sie bestrebt ist, dem Konturlosen ein eigenständiges, mutiges Profil zu geben. Denn durch die Überführung der »Künste im urbanen Raum« in »Urbane Künste Ruhr« hat sie sich klugerweise vorbehalten, einen Teil des Erbes auszuschlagen. Zuständig ist sie also nur für diejenige Kunst, die sich mit Stadt beschäftigt und nicht mehr für alle Kunst, die sich im Ruhrgebiet ereignet. Zugleich ist mit »Urbane Künste Ruhr« auch mehr gemeint als das künstlerisch-dekorative Streetworking im öffentlichen Raum. Die Auseinandersetzung mit der Stadtlandschaft Ruhrgebiet – darin sieht Katja Aßmann rückblickend das Alleinstellungsmerkmal im Erbe der Kulturhautstadtjahres.
Dass die Nachlassverwaltung keine ganz leichte Aufgabe sein wird, lässt schon das »mission statement« der »Urbanen Künste« vermuten: Es gilt, künstlerische Produktionen zu entwickeln, »mit dem Anspruch, das urbane Lebensgefühl der Kulturmetropole Ruhr über die Mittel der Kunst erfahrbar zu machen, neue Perspektiven aufzuzeigen und nachhaltige Veränderungen zu verursachen.« Ein Satz, der vermutlich mehr Selbstbewusstsein ausflaggt, als im Revier vorhanden ist. Und der mehr Fragen aufwirft, als er beantwortet. Etwa die nach dem Lebensgefühl, das da erfahrbar gemacht werden soll. Ist etwa die defensive Grundstimmung einer überschuldeten Region gemeint, die überregional als »Armenhaus der Republik« adressiert wird? Warum soll ausgerechnet die Kunst dem Ruhrgebiet »nachhaltige Veränderung« aufzeigen, wo sie selbst in vielen klammen Städten vor einer ungewissen Zukunft steht? Doch während Marketingexperten nicht müde werden, das Ruhrgebiet zur Metropole großzureden, sieht Katja Aßmann die Urbanität des Reviers weniger als gegebene denn als eine zu befragende. »Urbane Künste Ruhr«, das soll nicht zuletzt ein Experimentierfeld sein.
DIE KULTURETATS DES RUHRGEBIETS IN BEWEGUNG BRINGEN
Dafür stehen ihr jährlich 1,7 Millionen Euro Produktionsmittel zur Verfügung, hinzu kommen 500.000 Euro für die Emscherkunst, die auch in den Aufgabenbereich der »Urbanen Künste Ruhr« fällt. Verglichen mit dem Budget der Kulturhauptstadt ist das lächerlich wenig. Und doch dürfte sich der ein oder andere Kulturdezernent fragen, ob und wie seine Kommune davon profitiert, und sei es in Form durchreisender Projekte, die die »Urbanen Künste Ruhr« initiieren. Zudem sollen diese Projekte, so ist im Nachhaltigkeitspapier von Land und RVR nachzulesen, nicht nur exzellent sein, sondern auch »über die Region hinausstrahlen«. »In der Region denken viele, wir könnten nochmal Kulturhauptstadt machen«, sagt Aßmann, die sich selbst als zwischen den Akteuren und Häusern moderierende Kuratorin sieht. Durch gezielte Impulse will sie nicht zuletzt auch die etwa 370 Millionen Euro in Bewegung bringen, die in den Kommunen des Ruhgebiets für Kultur ausgegeben werden. »Es ist nicht unser Kernauftrag, neue Postkartenmotive zu erfinden. Von daher sind Leuchtturmprojekte vielleicht anders zu definieren. Das In-der-Stadt-Arbeiten ist Thema in Hamburg, Berlin oder New York. Wenn wir diese Art von Projekten anstoßen, sind wir über die lokale Ebene hinaus sichtbar.«
Was er spontan mit dem Ruhrgebiet assoziiere? Steffen Klewar, Regisseur des Berliner Theaterkollektis »copy & waste«, muss nicht lange überlegen. »Dass man hier immer sofort gefragt wird, was einem zum Ruhrgebiet einfällt. Das sagt viel über die Region aus. Es geht hier offensichtlich ganz viel darum, etwas zu sein, Begrifflichkeiten zugeordnet zu bekommen – um eine Art von Image.« »copy & waste« sind von den »Urbanen Künsten Ruhr« und vom Mülheimer Ringlokschuppen in eines der vier »Mobilen Labore« eingeladen worden, die sich als »Forschungsabteilung« der »Urbanen Künste« verstehen. Neben den Programmfeldern »Regionale Interventionen mit nachhaltiger Wirkung«, zu dem bestehende Formate wie die Emscherkunst zählen, und den »Strategien und Talenten«, die übergreifende, für die Region charakteristische Fragestellungen wie etwa die nach der Verkehrsinfrastruktur an unterschiedlichen Orten aufgreifen sollen, sieht Katja Aßmann die »Mobilen Labore« als ihren wichtigsten Schwerpunkt. Dazu eingeladen hat sie Architekten und Künstlerkollektive verschiedener Sparten aus ganz Deutschland. Auf dass die Auswahl regionaler Betriebsblindheit vorbeugen möge.
SCHLIMM CITY
Gänzlich unbekannt ist Steffen Klewar das Ruhrgebiet nicht. Ein halbes Jahr hat er in Bochum gelebt, der Schriftsteller Jörg Albrecht, ebenfalls Mitglied von »copy & waste«, hat dort studiert. »copy & waste« sind zurzeit auch Residenzkünstler am Ringlokschuppen, wo sie mehrere Arbeiten realisieren werden. Darunter auch eine, die sich mit dem historischen Konzept der Ruhrstadt auseinandersetzt. Worunter Jörg Albrecht nicht das »Marketingding« »Metropole Ruhr« verstanden wissen möchte, sondern eine »soziale Idee«. Aus der Zukunft wollen »copy & waste« auf die Utopie eines zusammenwachsenden Ruhrgebiets zurückblicken – auf das Scheitern dieses Prozesses. Eine Exkursion durch das Villengebiet im Mülheimer Südwesten steht im Rahmen des ersten Workshops zu den »Mobilen Laboren« auch noch auf dem Programm; erste Recherche für ein mögliches Stück über »Gated Communities«.
Die kritische Auseinandersetzung mit Mülheim treibt der Ringlokschuppen unter seinem Leiter Holger Bergmann schon seit längerer Zeit voran. Mit der Performance- und Diskussionsreihe »SchlimmCity« setzte man sich 2011 ironisch mit der zunehmenden Verödung der Innenstadt auseinander und brachte so das humorlose Stadtmarketing gegen sich auf. »SchlimmCity« sei das gewesen, was sie unter einem Leuchtturmprojekt verstehe, sagt Aßmann. »Abgesehen von den Performances hat das Projekt kaum Bilder hinterlassen, aber es hat eine Diskussion angestoßen.« Und eben das ist auch das vornehmliche Ziel der »Mobilen Labore«: Diskussion befördern, nicht kulturtouristisch verwertbare Fotos liefern.
In einem leer stehenden Möbelhaus haben Jan Kampshoff und Marc Günnewig, die 1999 in Münster zusammen das Architekturbüro »modulorbeat« begründet haben, ihre Studenten von der Münster School of Architecture um sich versammelt. Thema des Seminars ist ein Stehgreifentwurf zur Grenze. Die Teilnehmer schauen sich Bilder an, die sie dort aufgenommen haben, wo Bochum unmerklich in die umliegenden Städte ausfranst. Viel Grün und viel Grau ist zu sehen, Schrebergärten, Autobahnausschnitte, Feldwege und Gartenzwerge. Die Studenten diskutieren verschiedene Ansätze, das Gebiet zu kartografieren, wobei mal der Geräuschpegel, mal der Höhenmeter als Maßstab dient. Auch »modulorbeat« wurden von Katja Aßmann für die »Mobilen Labore« ausgewählt. Dass die beiden Architekten und Förderpreisträger des Landes NRW mit »borderlands 68,8 km Bochum« ausgerechnet die Stadtgrenze nachzuziehen versuchen, wo das Ruhrgebiet doch jetzt offiziell Metropole Ruhr genannt werden soll, möchte Kampshoff nicht als Statement verstanden wissen. Denn der Workshop gebe ja erst mal kaum mehr als eine »Suchrichtung« vor. Was nicht heißt, dass der Architekt der begrifflichen Dachmarke nicht kritisch gegenüber stünde. »Mit der Metropole verbindet man ein eindeutiges Bild und eine klare Definition. Das kann nur scheitern«, sagt Kampshoff. »Vielleicht sollte man einfach mal daran arbeiten, ein positives Bild von Provinz zu entwickeln. Die Leuten glauben machen zu wollen, dass das Ruhrgebiet wie Berlin sei, nur habe das eben noch keiner mitbekommen, ist der falsche Weg.«
Dass Bochum sich auch dann nicht wie Berlin, London oder Paris anfühlt, wenn man Essen, Dortmund, Herne, Castrop-Rauxel und Witten hinzunimmt, weiß natürlich auch Katja Aßmann. Doch sie versucht die Dachmarke zumindest als Idee zu retten: »Ich verstehe den Metropolbegriff als Metapher für regionale Zusammenarbeit und kulturelle Vernetzung. Und dass man eine Behauptung aufstellt: Wir sind eine zusammenhängende Region, die sich unterstützt. Aber das Ruhrgebiet ist im klassischen Sinne keine Metropole.« Schön zu hören, dass da jemand zur Nachlassverwalterin von Ruhr.2010 bestellt worden ist, die sich weniger für Visionen, als für die Realität des Reviers interessiert. Die ist schon kompliziert genug.
»Can’t you crawl to another town«; Symposium Darstellende Künste im Urbanen Raum. Ringlokschuppen Mülheim an der Ruhr, 8. Dezember 2012. www.urbanekuensteruhr.de