TEXT: STEFANIE STADEL
Die Glastür ist noch nicht ganz zugefallen, da stolpert man schon über die Bescherung. Ein Haufen neben dem anderen. Allerdings nicht weich und übelriechend, wie zu vermuten wäre. Die eigenwillig geformten Hinterlassenschaften sind steinhart und geruchsneutral. Nancy Graves nahm sich fossilen Kameldung vor. Zunächst hat sie ihn mit Gips abgeformt, anschließend in Bronze gegossen. Im Aachener Ludwig Forum eröffnet das Arrangement die erste umfassende Retrospektive der 1995 verstorbenen US-Künstlerin. Zusammen mit zwei potenziellen Urhebern, die vergnügt in der Ecke posieren: Per Schildchen ist der eine mit dem sandfarbenen Kurzhaar als »Kenia-Dromedar« ausgewiesen, der andere im zottelig braunen Winterpelz als »Mongolisches Trampeltier«.
Sie gehören ohne Zweifel hierher, an den Anfang der Schau. Denn mit lebensechten Höckertieren wie diesen startete Graves einst ihre Karriere. Die ersten Experimente auf dem Gebiet hatte die Künstlerin Mitte der 60er Jahre in Florenz unternommen, wo sie gemeinsam mit ihrem Kollegen und damaligen Ehemann Richard Serra weilte und gern durch den Zoo streifte oder im Museum anatomische Wachsmodelle bewunderte. Ein rundes Dutzend Versuchskamele soll während des Italienaufenthalts entstanden sein. Zwar hat Graves die Karawane vor der Abreise wieder zerstört, doch werden die am Kamel aufgeworfenen Fragestellungen für das Schaffen entscheidend bleiben.
Wieder daheim in New York, produzierte Graves drei neue Exemplare, die bereits 1969 im Zentrum ihres Auftritts im Whitney Museum Of American Art standen, wo Graves – damals nicht einmal 30 Jahre alt – als jüngste Künstlerin eine Einzelausstellung erhielt. Schon damals fand Peter Ludwig Gefallen an den weichen Riesen der eigenwilligen Jungkünstlerin. Er kaufte Dromedar, Trampeltier und bald noch viel mehr. 1971 bereits holte er Graves dann zum ersten großen Ausstellungsprojekt in seine Heimatstadt Aachen.
Ein hoffnungsvoller Start. Doch sollte der frühe Ruhm bald verblassen. In den 70er Jahren folgten zwar noch zwei Documenta-Auftritte in Kassel, danach verschwand die Künstlerin aber schnell aus den Hitlisten. Und sollte heute doch noch jemandem der Name Nancy Graves geläufig sein, dann sicher zuerst wegen der spektakulären Kamele. Zumal in Aachen. Denn dort sind Ludwigs Lieblinge bis heute zu Hause. Zusammen mit Werken wie der »Medici« von Franz Gertsch oder Duane Hansons unsäglicher »Supermarket Lady« machen sie sich gut im Dunstkreis des Hyperrealen. Aber sind sie dort tatsächlich richtig am Platz? Wohl kaum, wie sich jetzt im Kontext eines Œuvres, das kaum einmal komplett wahrgenommen wurde, herausstellt.
Haben doch die Kamele mit ihrer spektakulären Gestalt die Sicht auf den Rest des Werkes bisher erfolgreich behindert. Gut, dass sie nun ein Stück weit in die Ecke rücken und den Blick frei machen. Nicht nur auf ihr großes Geschäft, sondern auch auf das, was sonst noch alles um sie herum entstanden ist. Ein Kamelskelett in Bronze, Zeichnungen, in denen die Künstlerin etwa das Zahnschema des Kamels oder die Route einer Karawane skizziert. Oder dokumentarische Filme, entstanden 1970 in Marokko – der eine auf einem orientalischen Kamelmarkt, der andere bei einem 18-tägigen Aufenthalt in der Sahara, wo Graves eine ganze Herde ins Visier nahm.
Sie ging den Dingen auf den Grund, sammelte Literatur, stellte ausufernde Recherchen rund ums Kamel an, machte sich das Bildmaterial naturwissenschaftlicher Studien zu eigen. Selbst der Dung steht nicht für sich, sondern gewinnt Bedeutung im wissenschaftlichen Diskurs der Zeit. So war es damals eine ganz neue Erkenntnis, dass sich aus versteinerten Exkrementen Rückschlüsse auf Ernährung und somit auf die Vegetation ziehen lassen.
So zeichnet sich schon im ersten Raum der Schau sehr schnell Graves’ singuläre Position zwischen Kunst und Naturkunde ab. Und die Kamele fügen sich bestens ins Bild, denn es sind keineswegs hyperrealistische Abformungen. Ganz bewusst arbeitet Graves hier mit den Methoden und Materialien, die sie im Naturkundemuseum kennengelernt hat. Statt echten Kamelfells verwendet sie Fellfragmente einheimischer Nutztiere. Und die Glasaugen von Dromedar und Trampeltier sind eigentlich für Elchpräparate bestimmt.
Nicht umsonst wird in diesem Zusammenhang immer wieder auf die Kindheitserfahrungen der Künstlerin im Berkshire Museum in Massachusetts hingewiesen, wo der Vater beschäftigt war. Natur-, Kunst- und Kulturgeschichte fanden dort unter einem Dach zusammen – Skulpturen von Alexander Calder neben ausgestopften Tieren in pseudo-natürlichen Settings.
All das fließt wohl ein in ihr Werk …
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Ludwig Forum Aachen, bis 16. Februar 2014. Tel.: 0241/1807104. www.ludwigforum.de