TEXT: ANDREAS WILINK
Was sollen uns fertige Geschichten und das Gängeln der Fantasie in linearen Bahnen? Reine Bilder, freigeschaltet aus narrativen Strukturen, tun es auch. Mitsamt dem Wissen ihrer Macher, dass es auch hier sattsam Eingriffe in die Verkettungsinstanzen unseres Gehirns gibt. Oberhausen zeigt in seinem Internationalen Wettbewerb formal ambitionierte Filme, die Impressionen wichtiger nehmen als Erklärungen, die darüber nachdenken, wie Gestalt und Gestaltung eines Films seinem Inhalt gerecht zu werden hat – grafisch, durch Zwischentexte, eingeblendeten Schwarzfilm, Soundexperimente, visuelle Kompositionstechniken, technische Transfers oder mentale Transformationen, Collagierungen und puristische Zeichensetzung, die sich manchmal dem absoluten Film annähern.
Der Jahrgang 2013 erkundet vorrangig das Medium selbst und sein Vokabular, bevor es sich seinem Gegenstand widmet, ob es sich um die Atomkatastrophe von Tschernobyl handelt (»Toxic Camera« von Jane & Louise Wilson / GB), wo in ruhigen Einstellungen das Gift den Prozess des Filmemachens selbst durchdringt, ob um Kunstwerke, Naturphänomene oder Personen, ob in Statements, Essays oder Erzählungen.
Da öffnet Amit Dutta ein »»Museum of Imagination« (Indien), in dem Professor Goswamy, Kunsthistoriker und Kenner der indischen Malerei des Goldenen Zeitalters, nicht etwa sein Werk und diese Epoche erläutert, sondern in dem sich Ansichten der Natur und ihrer künstlerischen Reproduktion optisch und akustisch berückend verbinden. Es ist »A Portrait in Absentia«, so der Untertitel. Gerade in der Abwesenheit des Intellektuellen gewinnt die Kunst Vitalität und ihre Präsenz. In »Patricia Patterson Paintings« (Babette Mangolte /USA) analysiert die Kamera liebkosend die Oberfläche einer farbintensiven figurativen Malerei und scheint Pinselspure und Pigmente zu erfassen, wie es das Auge des Museumsbesuchers kaum könnte; in der Installation »Stoned« (Seoungho Cho / USA) sind es asiatische Tempelanlagen.
DAS GEDÄCHTNIS BEI DER ARBEIT
Eine Frau, sitzend, wartend, ihre hochädrigen Hände im Schoß. Allein. Sie spielt mit ihrem langen Haar, riecht an den Strähnen. Sie erwartet einen Besucher. Beschreibt ihn: eine Traumfigur, Fiktion, Erinnerungssilhouette? Immer wieder unterbricht Schwarzblende das Gespräch, in dem die Frau befragt wird von einer unsichtbar bleibenden Stimme. Man sieht ein Zimmer und das Fenster im Haus gegenüber, dann einen jungen Mann, der sich auszieht und ins Bett legt. Die Frau schaut ihn an, verwundert, fast bestürzt. Legt sich zu ihm, schläft ein. »Diary« (Adina Pintilie / Rumänien) funktioniert wie ein literarischer innerer Monolog, der sich nach außen projiziert. Man sieht dem Gedächtnis bei der Arbeit zu.
Die Handkamera bewegt sich unruhig durch einen weißgetünchten hellen weiten Raum, der leer ist bis auf großformatige schwarzweiße Fotografien an den Wänden. Sie hält inne vor einem Foto mit dem, wenn nicht alles täuscht, deutschen Politiker Philipp Jenninger, der sich eine Aufnahme mit ausgemergelten KZ-Häftlingen auf Pritschen hinter Stacheldraht anschaut. Vor demselben Motiv steht auf einem weiteren Foto Gregor Gysi, auf anderen Joschka Fischer, Schröder, Hans-Jochen Vogel, Scharping, Wörner. So geht es weiter, im Defilee der Besucher von Yad Vashem, die der Shoa gedenken. »Journal« (Eitan Efrat / Belgien) abstrahiert und neutralisiert, bereinigt gewissermaßen historisch und inszeniert wie für einen White Cube Erinnerungskultur, die Staatsgäste zu der jüdischen Gedenkstätte in Jerusalem gehen lassen, um den Toten und den Überlebenden die Ehre zu erweisen. An diesen anderen Klagemauern, die ein gewichtiges Element im Fundament der Gründung und nationalen Begründung Israels bilden, schafft der Blick auf Blickende eine stille vieldeutige Reflexion.
DIE ZEIT STEHT NICHT STILL
»A medium, that does not disappear, in what it makes visible«, wird Giorgio Agamben im Vorspann zu »Stellenbosched / Auf dem Abstellgleis« (Aryan Kaganof) zitiert. Stellenbosch sei eine Stadt gewesen, in die während des Burenkriegs inkompetente militärische Kommandanten geschickt wurden, so Rudyard Kipling zufolge. Das heißt, ein Ort, den die Politik abgeschrieben hat. Aufwand lohnte nicht weiter. Im Stop-Motion-Verfahren und als rasante Rap-Montage legt sich ein Puzzle Südafrikas, 18 Jahre nach der Apartheid. Der Schnelldurchlauf, untermischt mit einer Mozart-Sonate und afrikanischem Folk-Pop, kennt keinen Halt. Die Zeit steht nicht still: Menschen, Häuser, Züge, immer wieder Bahnhöfe, Räume, Natur, Industrie, Sprayer, Graffitis, Kinder, Demos und Diskussionen. Es ist, als sollte die permanente Bewegung und Beschleunigung die Dynamik sozialen Fortschritts befördern.
Ein sich zum Oval formender, die Gnade des Luft-Inhalierens genießender Mund beatmet dieses Video, das wie ein Glücksbonbon wirkt. Ganz kurz sehen wir die Berührung zweier Finger wie auf Michelangelos Erschaffung Adams. Es ist der Impuls organischer Beseelung, der »Swallow« (Laure Prouvost / GB) zur Seins-Feier macht. Eine prangende Rosenblüte, muntere Goldfische, Farben der Früchte, Brechungen des Lichts, die Natur im Sommer, Wasser und Luft, Berührungen von Körpern, Frau, Kind und Katze strahlen wohlige, sinnliche Reize aus, machen Lust und Lächeln.
IMAGINATION DES WEIBLICHEN
»The Capsule« (Athina Rachel Tsangari / Griechenland) ist mit 36 Minuten einer der längsten Beiträge und zudem der eleganteste und bildmächtigste. Sieben Teenager, Elevinnen, jungfräuliche Replikanten im Kammerzofen-Kostüm, auf einer Kykladeninsel lehren uns die Angstlust. Die surreale, märchen- und mythenschwangere Fantasie aus dem Geist von Pasolini, Buñuel, Balthus, Harry Kümel, Lewis Carroll und Pina Bausch ist inszeniert als Ritual und Horrorfilm über Imaginationen des Weiblichen.
Aykan Safoglu nimmt James Baldwin unter die Lupe. Buchstäblich. Mit einem Vergrößerungsglas beschaut er Sedat Pakays Fotos des farbigen amerikanischen Schriftstellers (einmal in einer Bar unter den Porträts von Atatürk und Kennedy), die bei seinen Reisen in den 1960er Jahren nach Istanbul entstanden. Baldwin fand am Bosporus eine für ihn, auch von der islamischen Befreiungsbewegung geprägte sowie erotisch grundierte, produktive Atmosphäre und Anregung für seine Coming-Out-Novelle »Giovannis Zimmer« und für seinen berühmten Roman »Another Country«, den er hier konzipierte. Natürlich ist »Gebrochen weiße Tulpen« (D / Türkei) kein Biopic im konventionellen Sinn, vielmehr eine Collage mit Memorabilien wie aus der Vitrine. Eine raffinierte kulturhistorische Recherche zu Normierungen und deren Überwindung, über rassische und sexuelle Diskriminierung und Differenz, über Aufbrüche in den Sixties, Initiationsgesten und kulturelle Brückenschläge und Vereinnahmungen, in der auch Marlon Brando und die türkische Pop-Diva Ajda Pekkan Auftritte haben. Die sanfte »Tulpen«-Revolte nimmt sich gegen die fiktiv dokumentarische, minimalistische, am Overhead-Projektor entwickelte kuriose Auto-»Biografie« (Magnus Bärtas / Schweden) eines massig dicken Jungen, der durch sein unkontrollierten Lachen auffällt, allerdings schon wieder »normal« aus.
MEMORY-MONUMENT
Das forcierte Kunstvideo »Buffalo Death Mask« (Mike Hoolboom / Kanada) erfasst auf grieselig grauem Grund ein Gesicht, einen Körper, eine Persönlichkeit wie eine Skulptur und stellt ein großes Memory-Monument dar. In den Spiralnebeln der Gedanken tauchen die Schatten-Bilder eines Lebens – des kanadische Malers Stephen Andrews – auf: seines jungen schönen Geliebten, von Familienmitgliedern, Orten und Szenen, begleitet von der Konversation über die individuellen Erfahrungen und Obsessionen, schwulen Sex, Krankheit und Tod. Die schmerz-schöne artifizielle Konfession bleibt nicht ohne Bezug zum Jahrhundert-Übervater Kenneth Anger.
Und nun die Gegenmodell, Anschauungsmaterial aus der Mehrheits-Gesellschaft. Ulrich-Seidl-Milieu. Kaffee, rosa Sekt, etwas zum Naschen. Fünf Frauen machen es sich gemütlich. Während die Tupper-Verkäuferin ihre Dosen und Tiegel anpreist, produzieren die potentiellen Käuferinnen fortwährend Ablenkungsmanöver, so dass die Sache nicht recht in Gang kommt. Wir sehen in »Tuppern« (Vanessa Gräfingholt / Österreich) trübsinnig tätige, in ihrer Lustbarkeit gelangweilte Horváth-Menschen aus dem Plastik-Zeitalter. Das Pendant dazu bietet »Hände zum Himmel« (Ulrike Putzer & Matthias van Baaeren). Der Schatten einer Seilbahngondel schwebt über grünem Grund. In der Kabine sitzen drei Urlauber und harren des Kommenden. Bei ihrer Ankunft gehen sie auf im allgemeinen Massenauflauf und Trubel der Pilgerzüge auf den Tiroler Hahnenkamm. Einige tragen Fahnen, die das Porträt, nein, keines Propheten, Papstes oder Heiligen zeigen, sondern eines Schlagersängers: Hansi Hinterseer. Man denkt kurz an die Bergpredigt und schämt sich des Gedankens angesichts der trivialen Munterkeit dieser geist- und geschichtslosen katholischen und kommerziellen Kleinbürger-Gemeinschaft, die sich sogar zur »Bundeshymne der Kirche« zusammenschließt und »Großer Gott, wir loben dich« singt. Ja, aber bitte nicht so.
2. bis 7. Mai 2013; Lichtburg Filmpalast, Elsässer Str. 26, 46045 Oberhausen. www.kurzfilmtage.de