TEXT: ANDREAS WILINK
Am Ende des ersten Teils von Karin Beiers Kölner Doppelabend »Demokratie in Abendstunden/Kein Licht« tritt Julia Wieninger ans Mikrofon und sagt: »Wir spielen«. Entschuldigend, offensiv, ignorant, vorwurfsvoll, selbstkritisch. Egal, was passiert, was an prä- oder post-apokalyptischen Zuständen herrscht. Und wenn die ganze Welt zusammenfällt. Zuvor, in der Dämmerstunde einer Orchesterprobe, die Wolfgang Pregler als Phänotyp eines Dirigenten mit 16 Schauspieler-Musikern als eine Art Donauerschinger Katzenjammer-Neue Musik aufführt, bis die geknechteten Instrumentalisten ihr anarchisches Potenzial entdecken und ein Happening abstrakter Expressionisten und Choristen des Chaos veranstalten, enthüllt sich auch das Ausgeflippteste noch als einstudiert. Als Teil der Inszenierung und Bühnen-immanentes Spektakel. Die eben noch spontan wirkende Aktion war kalkulierte Performance. So klärt sich das Theater über sich selbst auf. Alles wird auf seine Spielbarkeit überprüft. Die Frage, die Beiers leicht kokette Aufführung umspielt, lautet: In welchem Spielraum findet Theater statt, gibt es ein Leben außerhalb dieses Systems? Antworten fallen unterschiedlich aus. So oder so: als große Erzählung, Konzept um jeden Preis, Gegenmodell, artistische Revolte gegen das Reservat bürgerlicher Sinnsetzung usw. Schauen wir mal.
LAST EXIT IBSEN
Der Klinker-Bungalow ist kein Ort für Dämonen. Ibsen in skandinavischer Do it yourself-Bauweise: Zu besichtigen ist die »Agonie des Realen« (Baudrillard) bei Kay Voges, der am Theater Dortmund zum Doppelschlag mit »Nora« und »Gespenster« ausholt und sich ziemlich verrenkt. Das eine Elend hat das andere zu Folge, die Sünden der Eltern schreiben sich fort: Determinismus, wie ihn Ibsen als modern verstand, wird ins Heute verlängert. Die Alvings sind die gealterten Helmers. EleNora, die mit Gatte Torvald um das Verlassen des Puppenhauses auf Leben und Tod ringen musste und nun den nämlichen Kampf mit dem Tugend-Popanz Pastor Manders ausficht, hat den verruchten, aber in gutem Ruf stehenden Ehemann überlebt und erkennt, dass sich das Verderben in Sohn Osvald bis zur Gehirnerweichung fortpflanzt.
In die Szenen wird allerlei gelegt: mal ein flauer Witz, viel Videoprojektion, auf dass die Gesichter großmächtig durch die Kamera auf die Leinwand glotzen; auch eine Moral von der Geschicht’ entweder als Ulk, indem sich der Bademantel des Manders dort öffnet, wo ein Gottesknecht kein Mann sein sollte, oder schwer symbolisch, indem ein Golgatha-Kreuz an die Zimmerwand gehängt und von einem zum nächsten gereicht wird. Mit psychologischer Genauigkeit der Charaktere hält sich Voges nicht auf. Das passt nicht ins Konzept. Die Verhältnisse sind klar wie Kloßbrühe und werden aufgeführt wie eine trüb gerührte Posse von Feydeau. Vor der Bühnen-Glasfront ist ein Swimmingpool versenkt, in den die Figuren plumpsen und in dem Osvald absäuft – und die von Voges richtig diagnostizierte Ichsucht der Figuren gleich mit. EleNora kann endlich das Haus verlassen. Last exit. Alle tot. Es ist die Sorte Regietheater, die Daniel Kehlmann hätte gemeint haben dürfen, als er bei seinem Salzburger Festspielvortrag vom Leder zog. Der Applaus wollte kein Ende nehmen in Dortmund.
LESSING ALS OPERA BUFFA
Als ironischer Reflex auf Regie-Fixierungen ist der Boden im Theater Oberhausen mit den Namen sämtlicher Figuren der »Emilia Galotti« sowie dem des wesentlichen Requisits: »Dolch« bunt beklebt. Nicht genug damit, erscheinen der Reihe nach in Großbuchstaben VATER, PRINZ, MUTTER, ORSINA auf der Brandmauer. Menetekel in Säulenschrift, die erst der Zoom auf Normalmaß schrumpft. So wird die Projektion von Rollen und ihrer Bedeutung bildhaft: als erdrückender oder sich verdünnisierender Namenszauber. Chorisch reiht sich das Elfer-Ensemble an der Rampe, nimmt die vorgezeichneten Plätze ein und begleitet den Auftritt des Prinzen von Gonzaga (Martin Hohner) mit plapperndem Singsang. Lessings bürgerliches Trauerspiel als Opera buffa, vom Piano umspielt, von Lichtkegeln umtanzt, in giftige Farben getunkt und mit flinker Zunge exekutiert.
Auch beim Regisseur und Bühnenbildner Herbert Fritsch behält das Stück die Präzision eines Uhrwerks. Mechanik der Katastrophe. Die gute Stube oder der Adelssalon sind für Fritsch Orte des Triebstaues. Er killt das Drama und lässt es effektvoll als erotische, moralische, feudale Posse auferstehen. Es summt ein aufgestachelter Schwarm mit Wespentaille, Allongeperücke und Spitzenjabot, geschraubt in die Deklamation, gedreht ins Gefuchtel, gesteigert zur Koloratur. Geschminkte Larven überformen den natürlichen Ausdruck. Konflikte taumeln außer Facon und gerade in der Auflösung zur Kenntlichkeit. Aber nicht täuschen lassen von der Fratze und überzüchteten Manier. Brutalität, auch wenn sie Mozart auf den Lippen führt, liegt unter dem Artifiziellen, Gemeinheit nistet im Grinsen des Marinelli (Jürgen Sarkiss). Zudem schaffen sich die zwei Stunden an zentralen Stellen Schweigeminuten: Innehalten mit Lento-Tempi zwischen den Presto-Kaskaden. Die geschliffene, perfekt konstruierte, souverän ausgeführte Inszenierung setzt einen Maßstab für die beginnende Spielzeit. Das Requiem im Rokoko-Comic-Clinch mit unmännlichen Männern und toughen Soubretten endet in der seligen Ekstase der Tugend-Lust. Die fühlende, treuherzige Puppe Emilia (Angela Falkenhan) leckt sich die Finger nach dem Stahl. Gewiss, eine Ersatzhandlung. Aber Freud ist wie jede andere ideologische Aufrüstung aus diesem Kunstkabinett ausgeschlossen.
FUKUSHIMA-SOUND
Nochmals zu Beier. »Der Mensch hört nicht.« Nicht mehr hören, nicht mehr verstehen. So artikuliert sich die Menschheitsdämmerung. Die Brennelemente sind in Aufruhr. Elfriede Jelinek gibt in ihrem Klagegesang »Kein Licht« eine Verlustanzeige auf: Wo sind sie hin, die Stimmen, Töne, Klänge? Nur noch Weinen, Schluchzen, Geheul. Das zeigt sich in Köln so düster-komisch und geschwärzt lachhaft wie Beckett. Eine Geisterstunde. Wir beobachten acht Figuren, einige mit Mundschutz, zwei Japanerinnen in ihrer Sprache lamentierend, verschüttet nach der Katastrophe von Fukushima. Strahlende Atomkrüppel. »Die Verdunkelung hat uns überrannt«, heißt es im Text, und so sieht es auf der wüsten Bühnenraum-Installation aus. Aber Beier benutzt nur Rudimente des 40-seitigen Uraufführungs-Textes, als sei er ihr nicht geheuer. Lieber entwickelt sie eine atmosphärische Sound-Collage und inszeniert kunstfertig die Auflösung narrativer Struktur angesichts der Unübersichtlichkeit herrschender Verhältnisse und der Blindheit gegenüber der Gefahr. Wobei die formale Qualität die inhaltliche Substanz übersteigt. Wir schauen dabei in einen der geschlossenen Bühnenkästen des Johannes Schütz, diesmal grau und mit Wabendecke.
PHÄDRA IN SALZ EINGELEGT
In der Halle Kalk hat Schütz als Bühnenbildner und Regisseur Kreide gefressen und Racines französisch antikisierende »Phädra« in edlem Formalismus mehr dem Auge als dem Ohr dargebracht. Hippolyt (Orlando Klaus), der von seiner Stiefmutter verzehrend begehrt wird, läuft im Viereck um den weiß bestäubten Kampfplatz der Tragödie, das Schachbrett der alten Götter für ihr Spiel mit dem Menschen. Im kreidebleichen Karrée malt Theramen, Erzieher des Theseus-Sohnes, Figuren in den Sand. Scheinwerfer blenden auf, so dass die Figuren Schatten an die Wand werfen: Abbilder großer Leidenschaften oder kleinen Human-Spielzeugs. Schönstes Silhouettentheater – zu Tode exekutiert. Das aus Salz gebaute Mäuerchen am Bühnenrand schlägt die todwunde Phädra (Anja Lais) mit der Spitzhacke auf, um dann als Gift-Tote vom Gatten Theseus (Christian Nickel) im Gebröckel verbuddelt zu werden. Sehr kunstvoll all dies, aber so, als legte eine aus Einser-Schülern bestehende Abiturklasse ein Examen in Dramenkunde ab, lispelnd und haspelnd (mit Ausnahme Horst Mendrochs als Theramen), als seien verhängter Wahnsinn, fataler Liebestaumel, Schande und Schmerz durch die republikanisch-laizistische Schulreform gegangen.
FALK RICHTERS MEDIALE PUPPENSTUBE
Eine objektive Beschreibung der Welt liefern – geht das? Der Maler und Fotograf Jed Martin, Hauptfigur von Michel Houellebecqs »Karte und Gebiet« versucht es. Der Roman ist Künstlerbiografie und Farce über den Kulturbetrieb, peripher Arbeit, Karriere, Kunst, Politik, Liebe streifend, ist Lob des Regionalen jenseits von Paris, eine Geschichte über das Altern und das Verhältnis von Vater und Sohn. Nicht zuletzt ein Science-Fiction-Roman über die nicht ferne Zukunft bis 2048. Letzter Satz: »Die Vegetation trägt den endgültigen Sieg davon.« Damit endet auch die Aufführung im Kleinen Düsseldorfer Schauspielhaus, das durch die verzögerte Sanierung und Renovierung des Großen Hauses plötzlich den Druck der Intendanz-Premiere zu spüren bekam. Die Bühne (Katrin Hoffman) mutiert zum Tonstudio und Fotoatelier. Falk Richter stellt den ohnehin stilistisch und formal schlichten Roman treu und brav nach. Ausbuchstabiertes Vortragstheater, bei persönlicher Stimmenthaltung. Darin dem Roman gleich, dem Richter weniger schuldig bleibt als dem Theater. Der konventionelle Ablauf aber kriegt Unterstützung vom technischen Hilfswerk: Die Videokamera lässt Situationen gleichzeitig aufzeichnen und abspielen und führt ihr Making-Off vor, putzige Spielzeugmodelle werden abgelichtet, Aufschreibesysteme benutzt. Theater als aufgerüstete Puppenstube. Der Regisseur verschwindet hinter dem Medium, das die Botschaft ist – und sein Fluchtkanal. Mehr Arrangement als Inszenierung.
MEDEA OHNE MATERIAL
Sarantos Zervoulakos hingegen zweifelt den Text nicht an, sondern lässt Grillparzer mit Emphase spielen. Das Mythenmaterial zeigt sich im Jungen Schauspielhaus Düsseldorf durch ein paar Handgriffe als bühnentauglich: ein Segel aus Plastikbahnen, ein Schlauch, der Nebel in ein Becken-Rechteck leitet. Wolken, Wind und Wogen: die Fahrt der Argonauten, Kolchis, der Raub des Vlieses – alles verdunstet. Dafür reine Gegenwart vor den Toren Korinths, wo die Verstoßenen Iason und Medea Asyl suchen. »Weißt du noch!«, heißt die Formel für das Paar, mit der es schöne und schlimme Erinnerungen aufruft. Ein bisschen zu laut, ist diese Medea in ihrem großen Parka. Nicht gesellschaftsfähig. Eine Mörderin vom Ende der Welt. Im kultivierten Hellas tut man so was nicht. Doch die blonde Perücke, gleich jener, die Kreusa trägt, hilft ihr auch nicht dazu zu gehören. Medea bleibt ein Antikörper. Eine Wucht – rothaarig, stämmig, fleischlich, doppelt so breit und schwer wie die Kreusa der Janina Sachau. Stefanie Reinsperger macht die 100 Minuten zum Ereignis: elementar, lebenswarm, zart, imposant. Als ihr die Kinder genommen werden, schreit der Muttermund, außer sich, nicht zu stillen, sich wälzend. Sie ist die ausgeschlossene Dritte im Übermut der Jugenderinnerungen von Iason und Kreusa. Das Kind aber, das die anderen nicht mitspielen lassen, wird böse. Wenn Medea das Ungeheuerliche tun wird, tritt sie mit den Söhnen unter grellster Sonne ab, bis die Scheinwerfer erlöschen und die Kindmörderin zurückkehrt als jemand, die ihre Trauer, den Schmerz, ihre ewige Nacht angenommen hat.
Kurios, dass am so genannten Jugendtheater (ab 16) ungebrochen und identifikatorisch gespielt wird, also bei der und für die Generation Facebook, die im Internet unterwegs ist, angeblich ihre Beziehungen im Cyberspace pflegt, die neuen Medien handhabt wie unsereiner das kleine Einmaleins und, wenn’s hoch kommt, alle Diskurssysteme parat hat. Eigentlich eine schöne Vorstellung – eine Geschichte ist noch spielbar. Tatsächlich.