Der Vater war schuld! Er wollte das Kind nicht, noch nicht. Erst sich selbst finden oder kreativ erfinden. Die Sünden der Väter aber übertragen sich, nicht erst seit Ibsen, auf die Söhne. Also wird Bruno, der Wiederholungstäter, später mit seiner Vaterschaft ähnlich umgehen. »Wer Ich sagt, hat sich schon bald verdoppelt.« Der zentrale Satz aus Martin Heckmanns jüngstem Drama ist auch als Erblast zu verstehen. Vor allem aber als Projekt der Selbstbehauptung unter den Bedingungen der Unübersichtlichkeit, multipler Identität und x-facher Optionen in der Gegenwart, der kein Kanon mehr beikommt. Orientierung – ein Unding. Der Verarbeitungsversuch kann nur scheitern – individuell, exemplarisch, gattungsspezifisch.
Auf den Titel »Kommt ein Mann zur Welt« – eine Auftragsproduktion für das Düsseldorfer Schauspielhaus, die Amélie Niermeyers Intendanz endlich mal einen dringend ersehnten Erfolg brachte – könnten drei Pünktchen folgen. Was kommt dann? Es folgt die moderne Moritat von Bruno und Wie er die Welt sah – von der Wiege bis zur Bahre, an denen als Paten die Herren Kaspar Hauser, Heinrich Faust, Peer Gynt und Oskar Matzerat stehen. Zwischen Kolportage, Kalauer und Comic, Allegorie und Abenteuer schnittig collagiert und montiert, hat der Uraufführungs-Regisseur Rafael Sanchez die szenischen Kürzel noch weiter reduziert und das Tempo dynamisiert, so dass sich Brunos auf Dauer ganz bisschen eindimensional verlaufendes Bio-pic wie im Stenogramm-Stil notiert. Bruno ist ein »Sorgenkind des Lebens«, wie es über Hans Castorp heißt, seine Lebensgeschichte vom Autor auf die Spur des Entwicklungs- und Schelmenromans gebracht.
Zuerst sitzt der Knabe am zu groß gebauten Tisch, als sei er eine Figur aus Hoffmanns »Struwwelpeter«, am Ende erfolgt die Grablegung, umgeben von seinen inneren Stimmen, seinen »Gestalten«, die ihn wie Erinnyen verfolgten und wie Lemuren bestatten.
Bruno ist nicht auf den Mund gefallen. Er kann Sätze sagen wie »Die Gefahr zu kennen macht das Glück erst süß«. Aber er wird kein Poet, kein Hölderlin, kein Benn, der sein Ich im Kosmischen verglühen sieht, sondern Schlagersänger, der einen Hit landet, nachdem er seine Latenzphase ausgekostet, den Rausch genossen, ideologische Angebote getestet, das Image gewechselt, seine Künstlernatur ausprobiert hat, in der er unbewusst zitathaft mit immer schon da gewesenen Aktionen, Happenings und Performances epigonal scheitert. Schließlich hat er auch noch die Liebe gesehen. Soziale Kompetenz aber versäumt.
Bruno oder die Schmerzen der Realität: Markus Scheumann als zum Zeitgeist gewendeter Jedermann – inmitten eines spielfreudig flotten Ensembles auf der zur 70-er-Jahre- WG drollig zugeräumten Möbelbühne (Simeon Meier) im Düsseldorfer Kleinen Haus – eifert agil, behend, aber stets auch eine Spur angestrengt und primushaft, als wolle er ein für alle Mal jede (physische) Beschränkung hinter sich lassen. Ein Körperakrobat, der durch seine fragmentarische Existenz tanzt, turnt und tönt.
Heckmanns gewitzt kluges, flink gedachtes, energisch die Perspektiven wechselndes Stück verkürzt scheinbar die große Frage »Wie sollen wir leben?« ruckzuck auf die persönlich kleinere »Wie soll ich leben?«. Dabei geht er aufs Ganze. Hat für Brunos Ego-Trip die relevanten Diskurse und Referenzgrößen parat, hebt sie ironisch auf die Kommentarebene und spielt souverän mit ihnen: vom romantischen Geniebegriff über den Strukturalismus bis zur Neurobiologie, um Bruno am Ende nachzurufen: »Er war doch nur ein Mensch.« Eine wahre Trivialität. Aber was kann man mehr sagen.
Der Titel des vorherigen Heckmanns- Stücks »Wörter und Körper«, das für den Mülheimer Dramatikerwettbewerb (siehe Seite 15) ausgewählt wurde, könnte auch das Werk von Rolf Dieter Brinkmann (1940 bis 1975) kennzeichnen. Wo Heckmanns das Spiel vom Fragen leicht nimmt, spürte Brinkmann das Gewicht der Gegenwart als Leidensdruck. So wechselt der Theatergeher von Düsseldorf nach Köln wie von der ambulanten Aufnahme auf die Intensivstation.
Dem Erregungspotenzial der aus dem Nachlass stammenden Aufzeichnungen »Erkundungen für die Präzisierung des Gefühls für einen Aufstand« gibt Martin Wuttke als Regisseur in der Schlosserei des Schauspiels Köln ein Podium. Wir erleben den Angriff der Vergangenheit auf die Gegenwart, den Aufstand der Körper und Wörter gegen die Norm, den Muff und die Verrottung. Der angry young man Brinkmann, Mitbegründer der Kölner Gruppe des »Neuen Realismus«, protokolliert mit dem Zorn des Propheten die politische und soziale Verfassung der BRD in ihrer geistigen Unfreiheit: Deutschland im Herbst 1971 – übrigens das Geburtsjahr des Mönchengladbachers Martin Heckmanns. Brinkmann schreibt Rezepte gegen den Hausgebrauch des bürgerlichen Alltags und seiner auf ihn wie Außerirdische wirkenden Bewohner, die er nur über Kimme und mit Korn aushalten kann.
In schummriger Club-Atmosphäre, auf einem Laufsteg mit Drehscheibe, begleitet vom Sound von Yesterday, mit Wodka für die Gäste und unter Einsatz irgendwie intensiv independent wirkender Schwarzweiß-Videoprojektion aus der Garderoben-Box der Schauspieler ähneln die zwei Stunden einer der munter manischen Unterhaltungsrevuen aus der Prater-Filiale der Berliner Volksbühne. Wie ein Trash-Kurs von René Pollesch, der auf den »rasenden Expresszug durch die Zeit« ein paar Jahrzehnt-Stationen später als der Rebell Brinkmann springt und ebenfalls auf hoher Frequenz fragt: »Was für ein Hier ist das hier?«
Woran man merkt: Das Gestern ist noch gar nicht so lange her. Auf dem Abenteuerspielplatz des Wilden Westens der mittleren Bundesrepublik bewegen sich sechs große traurige Kinder von Vater Staat. Akrobaten und Animierdamen auf dem Kiez, denen Brinkmann und Wuttke das flackernde Bewusstsein einschalten und die intellektuellen und vegetativen Ströme kanalisieren. Wuttke, selbst ein Schauspieler-Extremist, lässt virtuos auf der Nervenorgel spielen und findet eine Form von vitaler Melancholie und Monotonie für das Orgiastische und Ekstatische, die Apathie und Aggression der Texte. Wobei Traute Hoess als babylonisch-barockes Nachtgewächs mit The-Party-is-Over-Miene, die Sex, Tod und Geld anruft, und Volker Spengler als wuchtig zarter, ruppiger Baals- Götze eigentlich nur zu stehen, zu stieren, zu warten, fies zu grummeln und wiehernd zu lachen brauchen – und die Rebellion mit Restromantik hat ihren gültigen Ausdruck gefunden.
Lauter kleine Totentänze im Pop-Rhythmus, in der eine Love Story als »Selbstmord- Programm« und die Diskothek als »Gaskammer für Musik« krass definiert werden. Lauter letzte Worte aus dem Echoraum im Underground – bis zum allerletzten »kaputt«. Es hätte auch Bruno von sich selbst sagen können. Wenn er nur wüsste, wie man Ich sagt.