TEXT: ANDREAS WILINK
Arthur Miller konnte sich, als er 1949 den »Death of a Salesman« schrieb, nicht vorstellen, welche Mutationen der Kapitalismus noch hervorbringen würde. Ebenso wenig David Mamet, als er 1984 sein Makler-Drama »Glengarry Glen Ross« verfasste, wie weit das menschliche Raubtier es noch bringen würde. Wall Street, 2008. Das Bürogebäude einer Investment-Agentur, die auf dem Immobilienmarkt spekuliert und Werte in Umlauf bringt, die nicht real sind. Der Tag beginnt mit dem Ende für 80 Prozent der Angestellten der Abteilung Risiko-Management. Es geht ganz schnell: fristlose Kündigung, Höhe der Abfindung, Angebot zur Unterstützung bei der »Neuorientierung«, wofür eine Broschüre mit einem Freizeit suggerierenden Segelboot auf dem Cover steht. Der leitende Mit-arbeiter Eric Dale verlässt seinen Arbeitsplatz wie ein Delinquent. Zuvor reicht er dem Kollegen Sullivan noch einen Stick mit brisantem Inhalt. Dies der Prolog von »Margin Call«, der den großen Crash, die globale Finanzkrise, zum analytischen Kammerspiel verdichtet.
Die Investment-Firma steht vor dem Ruin: falsche Formeln und Be-wertungsgrundlagen. Details tun nichts zur Sache. Die versteht ohnehin keiner. Die Reaktionen reichen von Fassungslosigkeit, Angst, Zynismus, Skrupel zu kalter Berechnung, heroischem Fatalismus, zweckdienlichem Optimismus: »Es wird noch schlimmer, bevor es besser wird.« Monitore blinken in der Nacht, irgendwo hängt die US-Flagge an der Wand. Kri-sensitzung, nachdem der Boss eingeflogen ist, Tuld, den Jeremy Irons mit der Theatralik eines Shakespeare-Bösewichts ins Chargenfach bugsiert. Ansonsten brilliert das grandiose Ensemble um Kevin Spacey als Chef-Trader Sam Rogers, der seinen Hund sterben sieht und ihn begräbt. Während eine Welt in Trümmer ging, ist diese Tat die einzig echte, melancholisch und human. Der Vorstand hat den totalen Abverkauf der toxi-schen Papiere beschlossen und den Zusammenbruch der Börsen in Kauf genommen. Keine normalen Menschen – oder doch? Es geht den Anzugträgern nur darum, wer wie viel im Jahr kassiert und wofür er die Millionen ausgibt. Horváth schrieb 1937 einen Roman, der hieß »Jugend ohne Gott«. Die Generation dieser young masters of the universe, wie Tom Wolfe sie schon ins Fegefeuer der Eitelkeiten schickte, verdient denselben Titel.
Die Wahrheit des tatsächlich auch noch unterhaltsamen, präzisen und packenden Lehrstücks »Margin Call« ist deshalb so bestürzend, weil sie so banal ist.
»Margin Call«; Regie: J.C. Chandor; Darsteller: Kevin Spacey, Jeremy Irons, Paul Bettany, Zachary Quinto, Penn Badgley, Demi Moore, Stanley Tucci; USA 2011; 109 Min.; Start: 29. Sept. 2011.