TEXT: ANDREAS WILINK
Die Kamera ist unterwegs als Zeuge der Wirklichkeit, nicht als Gestalter ästhetischer Welten. Filme wie Protokolle, die soziale Befunde liefern. Nah dran, unruhig und beunruhigend, dicht und drängend. Das Wettbewerbs-Programm des IFFF zieht Schicksalslinien von Deutschland nach Polen, vom Balkan zur Türkei und bis Südostasien. Nicht eine Liebesgeschichte ist darunter. Happy Endings liegen fern. Die Städte in den Spielfilmen sind keine Ort zum Wohlfühlen, ob Berlin, Sarajevo oder in Vietnam. Wenn es ein gemeinsames Thema gibt, dann, dass und wie Kinder und Jugendliche Leidtragende sind einer historischen Situation, familiären Konstellation oder ehrgeizigen Ausbildung, wie sie gefordert und überfordert werden – mit der Gegenwart und der Vergangenheit.
In »Die Lebenden« (Österreich, Barbara Albert), der ebenso gut »Die Toten« heißen könnte, bewegt sich Sita (Anna Fischer) zwischen Berlin, Wien, Warschau und Rumänien. Sie führt eine ambulante Existenz und viele Leben parallel. Dazu passen die schnellen Schnitte und rabiaten Wechsel; auch der Sex hat es eilig. Tägliche Kontrastprogramme: Studium; Job als Casting-Assistentin bei einem TCV-Sender; ein Quickie mit dem Redakteur, der aber verheiratet ist und doch lieber eine Paartherapie machen will; Begegnung mit einem israelischen Foto-Studenten, der ihr Liebhaber wird. Er steht kurz vor der Abreise – was als Leitmotiv über dem Ganzen stehen könnte. Zumal Sitas Vater (August Zirner) auch einmal »Die Krähe« aus Schuberts »Winterreise« singt.
Eigentliches Thema aber ist der dunkle Fleck in der Familiengeschichte, ist Sitas Großvater aus Siebenbürgen, der als SS-Offizier nach Auschwitz abkommandiert wurde und dort als Religionslehrer Kinder des Wachpersonals unterrichtet hatte. Sita beginnt eine Spurensuche, die sich dramaturgisch demonstrativ antithetisch aufbaut und im Gestus übergroß ausfällt. Dabei ambitioniert die Frage nach Verantwortung umkreist (der Großvater: »Ich plädiere für nichtschuldig – das war nicht ich, das war ein Anderer«) und dies im Gegenschnitt noch mit aktueller deutscher Migrations-Problematik und israelischer Politik verknüpft. Viele letzte Fragen. Einmal spricht der Opa in einer Art Poesie des Todes vom »Himmelssturz« mit Blick auf die Shoa. Es gibt auch mit Aufdecken der Wahrheit noch längst keine Erlösung, keinen Frei-Spruch. Dies die bescheidene, aber entscheidende Antwort der »Lebenden«.
In Vietnam (»L’Ame Maternelle« / Nhue Giang Pham) geht die noch junge alleinstehende Mutter Lan eine Beziehung zu einem Lastwagenfahrer ein, der für ihre Tochter Thu, für Alltag und Pflichten der Marktverkäuferin an ihrem Obststand nichts übrig hat. Das Mädchen, das die sexuelle Abhängigkeit der Mutter beargwöhnt wie den Fremden selbst und dessen brutale Lust und Gleichgültigkeit, wird in eine Verantwortung genötigt, die die Arbeit und finanzielle Notlage ebenso betrifft wie den Halbwaisen Dang, den sie an Mutterstatt in Obhut nimmt und mit dem sie wenigstens einige entspannte Momente am Fluss erlebt. Wie sich Müdigkeit, Trauer, Resignation, Argwohn und Sehnsucht auf Thus Gesicht spiegeln, in Spannungen ausleben und als Trübung darstellen, ist einfach großartig. Die Kinder sind auf sich gestellt. Die erwachsene Welt fällt aus.
Rahima (Marija Pikic) ist Anfang Zwanzig und arbeitet in »Sarajevo« (Regie: Aida Begic) in einer Großküche; ihr jüngerer, Diabetes-kranker Bruder Nedim, den sie aus dem Waisenhaus zu sich holte, bekommt Ärger in der Schule; er hat sich mit dem Sohn eines Ministers angelegt und dessen Handy kaputt gemacht. Es zu ersetzen, kostet Rahima drei Monatsgehälter. Geld ist knapp und reicht kaum zum Leben. Nedims Lehrerin steht auf Seiten der Macht und Autorität. Ihre Eltern haben die Geschwister im Krieg verloren (im Rückblick sehen wir die Ermordung der Mutter) – immer wieder dringen Schüsse und der Lärm von Bombardements aus der für Rahima unvergangenen Zeit ins Bewusstsein, untermischt mit dem symphonischen Beethoven der Pastorale als utopischer Antithese. »Keep on Fighting«, wünscht eine Nachbarin Rahima, die der Überlebenskampf strapaziert. Aber wo Nedim renitent ist, bedürftig nach Zuwendung und sich auf kriminelle Deals einlässt wie schon der ältere Bruder, hat Rahima echte Courage, ist bereit zu widerstehen und einzutreten für ihren Bruder, ihre demokratischen Rechte und für ihren Glauben, den sie mit dem Kopftuch der Muslimin vertritt. Aus den Fernseh-Nachrichten erfahren wir etwas über Bosniens politische und ökonomische Lage, über Korruption, Machtanmaßung und Gewalt. Dann zünden die Silvester-Raketen – es klingt wenig anders als der Kriegslärm.
Seher wurde schwanger vom Bruder ihrer Mutter. Niemand weiß davon, bis sie es der Mutter mitteilt. Deshalb hat sie sich zurückgezogen, dorthin, wo niemand sie kennt; arbeitet als Hostess eines Busunternehmens und Aushilfe in einer Imbissbar. Das Kind bringt sie allein zur Welt und setzt es aus. Einzig Nihat beobachtet den Vorgang und greift ein. Auch er hat eine Geschichte, die ihn die Menschen flüchten ließ zum Wachtdienst auf einem Beobachtungsturm und in die Einsamkeit der Berge, deren Naturhoheit einem begegnet wie in den Filmen von Semih Kaplanoglu. Er hatte Frau und Sohn, die bei einem von ihm selbst verschuldeten Autounfall zu Tode kamen. Seher und Nihat werden von ihren Erinnerungen gequält und fast zerstört. Einen Moment lang sieht es aus, als könne es für Mann, Frau und das Neugeborene, das die Mutter mit dem Monströsen seiner Zeugung verbindet und nur widerwillig annimmt, während es Nihat mit seinem Vaterinstinkt hegt, gemeinsame Zukunft geben. »Watchtower« (Pelin Esmer / Türkei) lässt das Ende offen – aber wenig hoffen.
Die »Snackbar« (Meral Uslu / NL) in der Suburb einer holländischen Großstadt wird von dem älteren Türken Ali betrieben und von einer Gruppe Marokkaner als zweite Heimat betrachtet. Die Jugendlichen, arbeits- und perspektivlos Söhne starker Mütter, besiedeln ein ungesundes Biotop aus Aggression, Frustration, Drogen und Kriminalität. Das staut sich viel überschüssige Energie. Die Burschen sind von jetzt auf gleich auf 100. No way out. Dokumentarisch inszeniert – eingeblendet werden die Namen der einzelnen Gruppenmitglieder – ist die Eskalation mit Händen greifbar, bis ein Toter die Stimmung kippen lässt – und Ali seine Mandoline zerbricht.
Yujin wurde ermordet. Der Verdacht fällt auf seinen Kommilitonen und Zimmergenossen Kim June. Die Polizei ermittelt unter den High School Seniors einer Elite-Universität, deren rigider Kodex und Erfolgsdruck Mauern von Schweigen und Leugnen baut. Unter den Privilegierten, deren elterlicher Status sie unberührbar macht, ist der aus kleinen Verhältnissen stammende Kim June Außenseiter. Ausgegrenzt und drangsaliert, entwickelt er sein eigenes Vergeltungs- und Kontroll-System mit Hilfe bioenergetischer Mittel. Schließlich nimmt er Geiseln. »Pluto« (Suwon Shin / Südkorea) beschreibt ein perfides Experiment am menschlichen Körper und Geist und einen brutalen Angstapparat, in den astronomische Berechnungen hineinspielen. Kühl, elegant, visuell intensiv und absolut professionell mit Blick auf den Weltmarkt inszeniert, mischen sich Thriller und Psychodrama und lassen das Spiegelbild eines staatlich geförderten Ausbildungs-Drills dunkel funkeln.
Das sehr schöne Roadmovie »Jackie« (Antoinette Beumer / NL) passt zur aktuellen familienpolitischen Kontroverse. Die Zwillinge Sofie und Daan wurden ausgetragen von einem amerikanischen Hippie und aufgezogen von zwei Gay-Vätern. Nun, nach 33 Jahren, erhalten sie Nachricht von ihrer unbekannten Mutter. Sie lebt in den USA in einem Wohnmobil, ist schwer krank und ziemlich neben der Spur – gespielt wird sie von der tollen Holly Hunter (»The Piano«). Sofie und Daan sind bereit, Jackie nach New Mexico in die Reha zu kutschieren. Eine Reise mit Erkenntnisgewinn, nicht nur, weil sie lernen, wie ein Schlangenbiss zu behandeln ist und was gegen aufdringliche Kerle hilft. Jackie, egal, wer sie ist oder war, gibt dem Leben der Schwestern eine Wendung – zum Besseren. Da erhellt sich etwas. Der Horizont klart auf.
IFFF, Dortmund, 9. bis 14. April 2013; www.frauenfilmfestival.eu