TEXT: CHRISTOPH VRATZ
Wenn Radu Lupu die Bühne betritt, sucht man vergebens nach einem Lächeln. Vielleicht macht es auch bloß der kräftige Bart, dass sich sein Minenspiel nur erahnen lässt. Ob er über irgendeine Art von Humor verfügt, ist nicht bekannt. Radu Lupu ist scheu, gegenüber der Öffentlichkeit im Allgemeinen und angesichts von journalistischen Fragestellern erst recht. Ein Interview? Unmöglich. Auch die Sachlage aus Archiven oder im Internet belegt, dass er Anonymität schätzt und sich allenfalls in größten Abständen aus dem Schweigen wagt.
Wer ist Radu Lupu, den eine eingeschworene Klaviergemeinde verehrt und der von Kollegen teils hymnisch gepriesen wird? Die Pianistin Mitsuko Uchida etwa zählt ihn zu den beeindruckendsten Musikern, denen sie begegnet sei; der Dirigent Colin Davis weiß zu berichten, dass Lupus starke Musikerpersönlichkeit durch Untertreibung und seine nahezu stoische Nachdenklichkeit zum Ausdruck komme. »Er interessiert sich nur für die Musik und drängt weder ihr noch sich selbst irgendeine Theorie auf.«
Das biografisch Wesentliche ist schnell abzuhandeln: 1945 in Galati, im Südosten Rumäniens, nahe der moldawischen Grenze als Sohn eines Juristen und einer Pädagogin geboren, bekommt der Frühbegabte mit fünf Jahren ersten Klavierunterricht. Mit zwölf spielt er das erste Konzert – auf dem Programm stehen ausschließlich eigene Werke. Lupu wird von Florica Muzicescu in Obhut genommen, die bereits dem legendären Dinu Lipatti pianistischen Feinschliff verliehen hatte. 1961 erhält er ein Stipendium in Moskau und wird u.a. vom Ahnvater der so genannten russischen Klavierschule, Heinrich Neuhaus, und von dessen Sohn Stanislaw unterrichtet. Ab Mitte der 60er Jahre gewinnt er mehrere Wettbewerbe – das Tor zur internationalen Karriere öffnet sich. Seit den frühen 1970er Jahren führt Lupu das Leben des reisenden Virtuosen.
Dabei besitzt Lupu wenig von dem, was Virtuosen gemeinhin auszeichnet: keinen Glamourfaktor, keine das Publikum zur Raserei aufstachelnde Programme, kein Medienhype. Lupu ist ein Grübler, der seine Erkenntnisse ausschließlich am Instrument preisgibt, nicht durch Worte und Parolen. Russische Klaviermusik sucht man in seinem Repertoire vergeblich, Neutönerisches ebenso wenig, allenfalls die Klaviersonate von Alban Berg, und die ist schon mehr als hundert Jahre alt. Mozart, Brahms, Schubert, Schumann – das ist seine Welt. Ein eng umrissener Kosmos, den er meisterlich beherrscht. Er spiele »nur die Komponisten, die zu mir passen, oder genauer, die mich am meisten mögen«, so eines seiner raren überlieferten Statements. Es stammt aus den 1980er Jahren!
Lupu, so grantig er wirken mag, ist an den Tasten ein Feingeist. Ein Nuancen-Finder, einer, der in die Töne hineinhorcht. Dabei macht sein Perfektions-Sinn auch nicht vor dem Arbeitsgerät Halt. Wenn ein Flügel nicht richtig präpariert und nicht weich genug intoniert ist, kann er solange hartnäckig beharren, bis eine Crew von Besänftigern und Technikern ihn und das Instrument in Optimalverfassung versetzt. Der Flügel ist für Lupu nicht der maschinelle Träger seiner Ideen, sondern das Experimentierfeld – vielleicht ähnlich der Farbpalette des Malers. Wenn man Lupu betrachtet, wie er vor dem Flügel sitzt und seiner Berufung nachgeht, lässt sich nicht unterscheiden, was bei ihm Intuition, was Intellekt, Erfahrung und spontanes Empfinden sind. Man schaut nicht hinter seine Denkerstirn.
Als er vor etwa drei Jahren das dritte Bartók-Klavierkonzert spielte, hätte der Hörer schwören können, dieses Werk, oft als Schlachtross geritten, so noch nie gehört zu haben. Das Gespür für Übergänge, für Verzögerungen, für die Gewichtung von Akkorden, die Kunst, auch in den leisen Regionen unterschiedliche Abstufungen zu finden: All das steht exemplarisch für Lupus Musizier-Ästhetik. Worauf basiert sie? Schwer zu sagen. Dem Vernehmen nach hat ihn das Studium von Arnold Schönbergs »Grundlagen der musikalischen Komposition« bewogen, sich fortan den Werken aus Sicht des Komponisten zu nähern.
Seine letzten Aufnahmen liegen schon Jahre zurück. Bevor er seinen 60. Geburtstag feiert, ließ er mitteilen, wolle er keine CD-Produktionen mehr machen. Auch in dieser Beziehung – ein Querdenker. Vielleicht ist ihm das ganze Theater drumherum zuwider. In früheren Jahren kam zwar keine üppige, aber immerhin aussagekräftige Anzahl von Einspielungen zustande, darunter Höhepunkte im vierhändigen Zusammenspiel mit Murray Perahia oder sämtliche Mozart-Violinsonaten mit Szymon Goldberg. Beethovens fünf Klavierkonzerte hat er unter Zubin Mehta mit dem Israel Philharmonic festgehalten. Eine famose Deutung des ersten Brahms-Konzerts stammt aus Anfang der 70er Jahre. Fast der ganze diskografische Rest sind Solo-Aufnahmen. Darunter wiederum Brahms, dessen späte Klavierstücke Lupu in einer Kombination aus vorimpressionistischer Kühnheit und traditioneller Schwere spielt, wuchtig, aber nicht kraftledern, wo nötig melancholisch, aber nicht leidend.
Und Schubert. Ihm hat er sich immer wieder genähert, in den Sonaten, Moments musicaux und Impromptus. Lupus Schubert ist eine Welt für sich; ein Bukett herbstlicher Farben, die Lupu subtil miteinander mischt, voneinander abgrenzt, Zwischenräume ausfüllend. Lupu ist ein Lyriker am Klavier, der Verinnerlichung als oberstes Gebot empfinden muss, ein Sensibilissimus, dessen Spiel indes niemals manieriert wirkt. Er sucht, sehr diskret, nach Werktreue. Auch das hat nichts Gewolltes. Tiefe bei Radu Lupu ist nicht bleiern, bedeutet vielmehr gelassenes Durchdringen.
Konzert mit Radu Lupu am 21. Mai 2012, Mülheim, Stadthalle; er spielt Werke von Schubert und Franck.